
Historiker beleuchtet Kurioses unter Christen im Mittelalter
Skurrile Taufen und Jesus in Siegerpose: Ein neues Buch benennt einige Eigenheiten.
Jesus am Kreuz? Gab’s im Mittelalter kaum zu sehen. Warum und wie Christus früher stattdessen gezeigt wurde, weiß Martin Kaufhold. Der Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Augsburg hat ein neues Buch geschrieben: „Die abendländische Christenheit im Mittelalter“ beleuchtet die frühe Zeit der heutigen Weltreligion in Europa. Über seine Erkenntnisse spricht Kaufhold im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Manche muten skurril an.
Herr Kaufhold, von welchen Kuriositäten unter Christen im Mittelalter können Sie berichten?
Da gibt es zum Beispiel Sprachliches. Wer des Lateinischen nicht sicher mächtig war, hat einem Bericht des heiligen Bonifatius zufolge, der im 7. und 8. Jahrhundert lebte, Kinder schon mal im Namen von „patria et filia“ und nicht „patris et filii“ getauft – also im Namen von Vaterland und Tochter statt des Vaters und des Sohnes. Auch vom Hofe eines Sohnes Karls des Großen gibt es eine skurrile Taufgeschichte.
Welche?
Da stehen 50 normannische Taufkandidaten. Am Ende sollen alle als Festtagsgeschenk ein Taufgewand bekommen. Weil aber mehr Täuflinge als erwartet versammelt sind, muss improvisiert werden. Einige Normannen erhalten daher ein Notkleid – und einer empört sich: Er sei schon zwanzigmal hier zur Taufe gewesen, noch nie habe er so ein Schweinehirtengewand bekommen! Da ließ sich also jemand zwanzigmal taufen – obwohl diese Handlung nach Kirchenlehre nur einmalig vollzogen werden darf. Und solch eine theologische Fragwürdigkeit geschah nicht irgendwo in der Wildnis, sondern am Hofe Ludwigs des Frommen, der höchsten Wert auf theologische Korrektheit legte.
Was heißt das?
Es zeigt, wie wenig entwickelt die Kommunikation war. Was etwa in Rom gesagt wurde, kam nicht gleich nördlich der Alpen an, und wenn es ankam, dann nicht unbedingt so, wie es anfangs formuliert worden war. Es hatte bisweilen etwas von Stiller Post. Das erschwerte das Verständnis zentraler Lehr- und Glaubensinhalte. Der Hof Ludwigs des Frommen hatte dem Normannen das Wesen der Taufe offenkundig gar nicht vermittelt, nämlich den Eingang in die unauflösbare Gemeinschaft des Getauften mit Jesus Christus. Für den Normannen war die Taufe nur ein Reinigungsritual, inklusive Kleidergeschenk, aber bitte ein wertvolles!
Welche Rolle spielten heidnische Vorstellungen im mittelalterlichen Christentum?
Die kamen durchaus immer wieder zutage. Da gibt es etwa eine Notiz über Helgi, einen norwegischen Seefahrer aus der Zeit der normannischen Expansion nach Island und Grönland im 10. Jahrhundert. „Helgi hatte einen gemischten Glauben“, heißt es aus späteren Quellen. Immer, wenn es gut ging, glaubte er demnach an Christus. Wenn der Sturm härter wurde, wandte er sich an Thor. Das zeigt: In vielen Fällen waren christliche Bekehrungen im frühen Mittelalter etwas, bei dem die Menschen in ihren Götterkosmos eine weitere mächtige Figur aufnahmen. Es gab im frühen Mittelalter auch nur wenige Darstellungen von Jesus am Kreuz.
Wieso?
Christus wurde in der Mission bei den Mächtigen hauptsächlich als Auferstandener, in Siegerpose gezeigt, sicher zu religiösen Werbezwecken. Man muss dabei das Milieu der Mächtigen bedenken, durch das das Christentum wesentlich verbreitet wurde. An den Königshöfen machte sich eine leidende, nackte und besiegte Figur nicht gut. Später, mit der Ausbreitung des christlichen Glaubens in alle Schichten, änderte sich das. Denn die leidende Figur war auch einfachen Menschen zugänglich, in diesen geschundenen Jesus konnte man sich besser einfühlen als in eine thronende Gestalt.
In Ihrem Buch führen Sie auch eine besondere Form von Gotteshäusern an, die sogenannten „Eigenkirchen“. Was hat es damit auf sich?
Dieser alte Forschungsbegriff besagte, dass ein Adliger, der eine Kirche stiftete, nicht nur für deren Bau und Unterhalt zuständig war, sondern auch für die Auswahl des geistlichen Personals – unabhängig vom Bischof. Die alte kirchenhistorische Bezeichnung „Eigenkirche“ wird heute allerdings kaum mehr benutzt. Denn früher war damit die Vorstellung verbunden, die geistliche Leitungsgewalt der Adligen wurzle im germanischen Recht. Die heutige Forschung begegnet vermeintlichen „germanischen“ Traditionen mit Recht skeptisch. In jedem Fall: Die Adligen haben nicht unbedingt nach einem berufenen Prediger gesucht.
Wonach dann?
Sie fragten sich sicher häufiger: Wer ist für praktische Tätigkeiten weniger geeignet, wer ist kein guter Pächter? Und der wurde dann Priester – und zwar einer, der das predigte, was sein Herr wollte.
Gab es dann im Gottesdienst Abstruses zu hören?
Gut möglich, zumal es im gesamten Mittelalter keinen festen Bildungskanon gab, den ein Priester hätte nachweisen müssen. Allein: Wir wissen darüber nur wenig. Es existieren dazu nur wenige Quellen.
Wie Sie weiter schreiben, gab es im frühen Mittelalter „verschiedene Christenheiten“. Inwiefern?
In Irland hielt man zum Beispiel lange an einer speziellen Berechnung des Osterdatums fest – dort wurde die Auferstehung Jesu um ein paar Tage abweichend vom Rest der Kirche gefeiert. In Irland war man von der eigenen Terminformel sehr überzeugt. Wegen der primitiven Kommunikation brauchte der römische Standard einige Zeit, um sich dagegen durchsetzen zu können. Außerdem wuchs in Nordeuropa kein Wein für die Eucharistie. Ein grönländischer Bischof wollte einst Abhilfe schaffen, indem er den Papst bat, aus heimischen Beeren Wein gären zu dürfen – Rom lehnte jedoch ab. Aber wer nicht fragte, konnte durchaus Bier verwenden.