
Als der Krieg zu Ende ging und die Sieger einrückten
Mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen endete am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg. Deutschland wurde von alliierten Truppen besetzt.
„Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen“, heißt es im letzten Wehrmachtsbericht, der am 9. Mai um 20.03 Uhr vom „Reichssender Flensburg“ verbreitet wird. Auf dem Gebiet des Erzbistums ist der Krieg bereits vor einigen Wochen zu Ende gegangen – mit ganz unterschiedlichen Folgen. Die Paderborner Innenstadt liegt nach mehreren schweren Luftangriffen in Trümmern, der Turm des Domes ragt als Stumpf in den Himmel. Der letzte und schwerste Angriff am 27. März fordert allein mindestens 344 Menschenleben.
Städte wie Dortmund, Hamm oder Hagen sind schon vorher schwer bombardiert worden. Sie galten als strategisch wichtige Verkehrsknotenpunkte oder Teil der deutschen „Rüstungsschmiede“ im Ruhrgebiet. Für die Bevölkerung in den Kleinstädten und ländlichen Regionen ist der Einmarsch der amerikanischen Truppen oft die erste direkte Begegnung mit dem Krieg, sie sind bisher bis auf vereinzelte Bombenabwürfe oder Tieffliegerangriffe größtenteils verschont geblieben.

In Rietberg und Wiedenbrück waren Zeitzeugen von den Heimatvereinen aufgerufen, ihre Erlebnisse am Kriegsende aus Anlass des 80. Jahrestages zu schildern. Der Vorsitzende des Wiedenbrücker Heimatvereins, Dr. Wilhelm Sprang, fasste die Berichte gemeinsam mit dem Historiker Norbert Ellermann in zwei Vorträgen zusammen, in Rietberg übernahm Ute Merschbrock vom dortigen Heimatverein die Dokumentation. Die Berichte stehen stellvertretend für die zum Teil dramatischen Geschehnisse an vielen anderen Orten.
Wiedenbrück wird in der Nacht vom Karsamstag, 31. März, auf den Ostersonntag von den Amerikanern besetzt, Rietberg am Morgen des Ostersonntags. Die Operationen sind Teil einer groß angelegten Zangenbewegung, mit der die Amerikaner von Norden und Süden das Ruhrgebiet einkesseln. Die beteiligten Verbände treffen sich bei Lippstadt.
Sinnlose Zerstörung vermeiden
Einige Einwohner Rietbergs und Wiedenbrücks wollen verhindern, dass ihre Städte noch in den letzten Stunden des Krieges zerstört werden. Beispiele dafür hat es bereits genug gegeben. Doch der kampflosen Übergabe steht die offizielle Ideologie entgegen, nach der jeder Quadratmeter deutschen Bodens „bis zur letzten Patrone“ zu verteidigen ist. Die Repräsentanten von Partei und Wehrmacht vom Irrsinn dieser Idee zu überzeugen, kostet in Rietberg, wie sich Zeitzeuge Hubert Prante erinnert, einiges an Alkohol und braucht auch wohl einige handgreifliche Argumente. Abgesehen davon geht jeder, der die Ideologie des Kampfes bis zum Letzten in Zweifel zieht, ein großes persönliches Risiko ein: Wer beispielsweise die weiße Fahne hisst, muss damit rechnen, erschossen oder aufgehängt zu werden. Schließlich ist der Rietberger Ortsgruppenleiter, Erich Ludwig Adalbert Oberquelle, bereit, eine bereits errichtete Panzersperre aus einigen Baumstämmen wieder abbauen zu lassen.
In Wiedenbrück ist es in erster Linie der Überzeugungskraft einer jungen Juristin und der Entschlossenheit eines anderen Bürgers zu verdanken, dass kein sinnloser Widerstand geleistet wird. Dr. Elisabeth Meierkord stellt sich einem Major der Wehrmacht entgegen, der eine Panzersperre errichten lässt. Während der Soldat auf dem „ausdrücklichen Befehl“ beharrt, versucht die junge Frau, ihm diesen „Unsinn“ auszureden. Unterstützung erhält sie dabei von einer Reihe Evakuierter aus Aachen, die erlebt haben, wie ihre Heimatstadt zerstört wurde. Als Heinrich Kleibaumhüter einen Gegenstand aus seiner Tasche zieht und dem Soldaten droht, ihn zu erschießen, räumt der Major das Feld: Er setzt sich auf sein Fahrrad und verschwindet. Die Barrikade wird entfernt. Zuvor hatte Elisabeth Meierkord gemeinsam mit einer anderen Frau auf dem Turm der Aegidius-Kirche weiße Fahnen gehisst. Sie sollten das Zeichen für die anderen Bürger sein, dies ebenfalls zu tun. Als Kreisleiter Horn das mitbekommt, will er die beiden Frauen auf dem Marktplatz vor der Kirche aufhängen lassen. Doch dazu kommt es nicht mehr.

Auch wenn die von den Machthabern geforderte „Verteidigung“ abgewendet werden kann, bedeutet das nicht, dass niemand zu Schaden kommt, wie drei Vorfälle in Wiedenbrück in der Nacht vom Karsamstag auf den Ostersonntag zeigen. Auch in Rietberg ereignet sich laut einem Zeitzeugen ein „tödlicher Zwischenfall“.
Die Amerikaner gehen kein Risiko ein. Beim kleinsten Anschein von Widerstand wird geschossen. Auch Partisanen-Anschläge des sogenannten Werwolfs fürchten sie. Wer in diesen Stunden unterwegs ist oder sich auch vielleicht nur am Fenster zeigt, wird unter Feuer genommen. So ergeht es zwei Jungen, die in einem Behelfsheim am Wiedenbrücker Ortseingang aus dem Fenster schauen. Sie werden genauso erschossen wie der Kutscher eines Fuhrwerks.
Auch ein Fahrzeug der Wehrmacht, das den Amerikanern aus Richtung des Franziskanerklosters in der Innenstadt entgegenkommt, wird unter Feuer genommen. Zu den Insassen gehören Frauen und Kinder aus dem Ruhrgebiet. Unter den Toten ist eine Mutter aus Dortmund mit ihren drei Töchtern im Alter von 16 bis 22 Jahren.
Viele zivile Opfer
Zahlreiche Opfer fordert ein Zwischenfall in der Nähe der Stelle, an der kurz zuvor noch die Panzersperre entfernt worden ist. Drei Fahrzeuge nähern sich aus Richtung Lippstadt. Sie werden ebenfalls beschossen. Ein mit Treibstoff beladener Lkw explodiert. Die bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen können erst am Ostermontag geborgen werden. Laut Chronik des Franziskanerklosters werden am Donnerstag der Osterwoche 25 Tote auf dem Wiedenbrücker Friedhof beerdigt. In vielen Fällen ist ihre Identität nicht geklärt. Die Gräber sind bis heute erhalten.
Dr. Michael Orlob erinnert sich, dass viele Rietberger sich am Ostermontag bereit gemacht hatten, aus der Stadt zu fliehen, falls es zu Kämpfen kommen sollte. Er selbst war mit seiner Mutter aus Hagen nach Rietberg evakuiert worden. Das Haus seiner Familie war dort bei einem Bombenangriff am 1. März 1945 zerstört worden. Doch die amerikanischen Truppen nehmen Rietberg kampflos ein. Allerdings wird die Schwester des Uhrmachers Brüning durch einen Bauchschuss schwer verletzt, als sie sich am Fenster zeigt. Sie stirbt wenige Tage später.
Ohrfeige von amerikanischem Offizier
Orlob ist noch ein anderes Ereignis im Gedächtnis geblieben: „An der Spitze der Amerikaner marschierte als amerikanischer Offizier Karl Löwenstein ein. Anton Köller trat ihm entgegen und sagte: ‚Ich möchte einem alten Rietberger zur Begrüßung die Hand schütteln.‘ Daraufhin ohrfeigte Karl Löwenstein Anton Köller.“ Löwenstein hatte einst zusammen mit seiner Familie in der Müntestraße in Rietberg gewohnt, wo sein Vater ein Druck- und Verlagshaus betrieben hatte. Karl Löwenstein war vor der Verfolgung der Nazis in die USA emigriert und in die US-Armee eingetreten. Sein Elternhaus wurde einen Tag nach der Reichspogromnacht zerstört. Seine Eltern wurden nach Theresienstadt deportiert und später in Treblinka ermordet.“
Während der amerikanische Einmarsch für die Deutschen die Niederlage besiegelt, erleben andere diesen Moment als Befreiung. Am 2. April erreichen die Amerikaner das Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in der Senne. Dort sind seit 1941 in erster Linie sowjetische Kriegsgefangene interniert sowie polnische, serbische, französische und ab 1943 auch italienische.

Sie müssen auf Bauernhöfen und in Betrieben Zwangsarbeit leisten. Die Behandlung der sowjetischen Gefangenen ist katastrophal, sie hausen in Erdhöhlen. „Ohne Zwangsarbeit wäre die Zivil- und Kriegswirtschaft in Deutschland schon lange zusammengebrochen“, sagt der Historiker Norbert Ellermann. So gut wie kein Betrieb sei ohne Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgekommen. Mit ihnen soll auch ein militärisches Großprojekt in der Nähe von Wiedenbrück, im heutigen Ortsteil Lintel, umgesetzt werden: Dort wird Anfang 1945 begonnen, eine Startbahn für die neuen Düsenjäger ME 262 der Luftwaffe zu bauen. Anfang März kommen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auf die Baustelle. Sie müssen Erdarbeiten ausführen und leben unter primitivsten Bedingungen.
Nachdem Deutschland in Besatzungszonen geteilt ist, rücken die Amerikaner ab und die Briten übernehmen das Kommando in der Region. Ein Vorfall im November 1945 zeigt, dass die Nazi-Herrschaft zwar vorbei ist, vieles aber ist so eingebrannt, dass sie nicht so einfach abgelegt wird: Bei der Feuerwehr in Rietberg ist eine Inspektion geplant. Dafür stellt sich die Mannschaft mit dem Feuerwehrwagen vor dem Rathaus auf. Zeitzeuge Karl Setter erinnert sich: „Anstatt eines englischen Soldaten kam eine Person in Zivil. Lippe-Hollmann ließ die Mannschaft antreten und machte mit dem Hitler-Gruß Meldung. Der Engländer antwortete auf Deutsch: Gelernt ist gelernt.“