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08.05.2025
Ferdi Drewes vor dem Grab seiner Mutter und seiner Geschwister.
Foto / Quelle: Karl-Martin Flüter

„Sie sind alle tot. Du bist der einzige, der lebt“

Alle reden vom Krieg. Ferdi Drewes hat ihn als Kind erlebt. Fast seine ganze Familie wurde 1944 bei einem Bombenangriff auf Altenbeken getötet. Er erinnert sich heute noch sehr genau an diesen Tag. Die Trauer ist geblieben, auch 80 Jahre später.

Altenbeken

Das Grab ist vom Haus aus gut zu sehen, mit guten Augen kann man vielleicht sogar die Namen auf dem Stein erkennen: Lissi Drewes, 1905 geboren, und ihre Kinder Hansi, Annemari, Willi und Karlchen, zwischen 1935 und 1943 zur Welt gekommen, so steht es dort. Der Todestag ist bei allen derselbe: der 26. November 1944.

An diesem Tag griffen die alliierten Bomber den Eisenbahn-­Viadukt am westlichen Dorfrand von Altenbeken an. Sie rissen ein großes Loch in die Eisenbahnbrücke. Viele Bomben verfehlten das Ziel. Einige trafen die Häuser am Alten Kirchweg, ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt. Dort hatten Eisenbahner gebaut. Einer von ihnen war der Lokomotivführer Wilhelm Drewes, der mit seiner Frau Elisabeth fünf Kinder hatte, der älteste war Ferdinand, „Ferdi“. Das Haus war noch nicht ganz fertig, als es am 26. November einen Volltreffer erhielt. Neun Menschen saßen im Keller. Ferdis Mutter, fünf Kinder, zwei Schwestern der Mutter. Eine hatte ein Kind dabei.

Das ist mehr als 80 Jahre her. Ferdi Drewes ist heute 90, aber immer noch ein Mann von bewundernswerter Rüstigkeit und geistiger Frische. Er erinnert sich an diesen Tag, als wäre es gestern gewesen.

„Wir haben gebetet. Ich habe den Knall nicht gehört, aber das ganze Haus lag auf mir. Mindestens zwei oder drei Meter Schutt. Als ich wach wurde, habe ich gedacht: Du kannst ja deine Hände nicht bewegen. Du kannst nicht mal um Hilfe rufen. Ich glaubte, dass ich sterben werde. Der ganze Mund war voll Schutt und Staub. Ich habe versucht zu beten, bis ich plötzlich hörte: ‚Hier liegt noch einer!‘“

Die Narben bleiben

„Die Nachbarn hatten schon acht Tote aus dem Keller geholt. Die Narben habe ich heute noch. Der Arm war gebrochen, am Kopf hatte ich viele Verletzungen. Ich habe vorsichtig gefragt: ‚Lebt denn noch einer?‘ ‚Nein, Ferdi, sie sind alle tot, du bist der einzige, der lebt.‘“ Die Retter brachten ihn in Sicherheit, als das Bombardement erneut begann. Die zweite Welle.

Die „Schwestern vom kostbaren Blut“ in Neuenbeken nahmen ihn notfallmäßig auf, bis er ins Krankenhaus nach Bad Driburg kam. Nach nur zwei Tagen wurde er entlassen, weil das Krankenhaus als Lazarett diente und mit Verwundeten überfüllt war. Ferdi wünschte sich nur eins, das Vogelbuch der Nachbarin Frau Block. „Ich war so ein Naturfreund. Das war so sein Sammelbuch, in das die Vogelbilder geklebt wurden, die man dazubekam, wenn man Eckstein-­Zigaretten kaufte.“

Der Vater, Lokführer in der Wehrmacht und in der Ukraine eingesetzt, ahnte nichts. Er war verwundet worden und im November 1944 im Lazarett in Wien. Einige Tage später erkannte ihn eine Zugbegleiterin auf der Strecke zwischen Warburg und Altenbeken. Sie rief aus Willebadessen in Altenbeken an, man solle jemand zum Bahnhof schicken, Wilhelm Drewes sei im Zug. Als er in Altenbeken ausstieg, traf er an der Sperre seine Schwester und fragte: „Fine, warum stehst du denn hier?“ „So hat er es erfahren“, sagt Ferdi Drewes. „Ich habe auf ihn gewartet und sah einen Mann in Uniform, der laut weinte, als er die Straße hochkam.“

Das alles geschah, als Ferdi Drewes zehn Jahre alt war. Wenn er heute die Bilder aus der Ukraine sieht, setzt ihm das zu, weil es ihn an die Zeit vor 80 Jahren erinnert, als Gewalt und Tod nicht endeten. Weitere Angriffe auf den Viadukt und den Altenbekener Bahnhof folgten. Tieffliegerangriffe gehörten zur Tagesordnung. In den letzten Kriegsmonaten sollte Ferdis Vater als Lokführer wieder zur Wehrmacht zurück. Aber er habe sich erfolgreich geweigert, erinnert sich der Sohn. Er hat einen Brief seines Vaters aus dieser Zeit aufbewahrt, will ihn aber nicht zeigen, „weil ich sofort anfange zu heulen“.

Der Viadukt wurde bei den vielen Angriffen mehrfach getroffen.
Foto / Quelle: Kreis- und Stadtarchiv Paderborn

Verstörende Bilder

Die Toten konnten nicht auf dem Friedhof in Altenbeken beigesetzt werden. Bomben hatten das Gräberfeld fast unter dem Viadukt aufgewühlt, Särge und menschliche Überreste durch die Luft gewirbelt. Man bestattete die fünf Toten der Familie Drewes und ihre Verwandten neben dem alten Kriegerdenkmal, das am Alten Kirchweg steht, direkt gegenüber dem zerstörten Haus, in dem sie getötet worden waren. Die Nationalsozialisten versuchten von der Beerdigung eine Propagandaveranstaltung zu machen. Parteimitglieder standen feierlich auf den Stufen vor dem Kriegerdenkmal und neben dem Grab.

Wilhelm Drewes baute das Haus für sich und seinen Sohn wieder auf. Einige Jahre später heiratete er und bekam mit seiner neuen Frau zwei weitere Kinder. Ferdi Drewes erinnert sich, wie sein Vater jeden Tag, wenn er das Haus verließ, zum Grab hochschaute und seine Familie grüßte: „Guten Morgen, liebe Lissi, lieber Hansi, Willi und Karlchen, liebe Annemari.“

Die sonst feste Stimme von Ferdi Drewes zittert, wenn er das erzählt. Er wischt sich über die Augen. Er ist wie sein Vater Eisenbahner geworden, allerdings nicht auf der Lok, sondern als Schlosser im Ausbesserungswerk Nord in Paderborn. Er wurde Bereichsleiter. Seine Kollegen waren eine Art Ersatzfamilie. Noch heute bedauert er seinen Abschied aus dem Team. Bei der Jahresversammlung des Eisenbahner Sportvereins Paderborn ist er da und erhält eine Urkunde für 60-­jährige Mitgliedschaft. Die anderen sind mindestens 20 Jahre jünger, aber das macht keinen Unterschied, so jung, wie er wirkt.

In der Straße „Alter Kirchweg“ zeigt Ferdi Drewes das Haus der Familie. „Das linke Kellerfenster“, sagt er, „da sind sie alle gestorben.“ Dort lag er unter dem Schutt. Er geht über den Rasen zu dem Grabstein hoch. In der Mitte steht der Name der Mutter, links und rechts die vier Kinder. Der mächtige Viadukt ist von hier aus gut zu sehen.

Ferdi Drewes schaut auf den schwarzen Stein. „Wenn ich sterbe“, sagt er leise, „will ich hier beerdigt werden.“

Karl-Martin Flüter
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