Klischees und Missverständnisse
Die promovierte Kriminalitätshistorikerin und Archivarin Dr. Sarah Masiak vom Kreisarchiv Lippe in Detmold im Gespräch über die Ursachen und Auswirkungen der Hexenverfolgung.
Wo tauchte der Begriff der Hexe erstmals auf?
Der Begriff ist nachweislich für das 15. Jahrhundert erstmals belegt und kommt aus dem Althochdeutschen. Er setzt sich zusammen aus den Begriffen „Hag“ für Hecke und „Tysia“ für Elfe. Das bedeutet so viel wie: Ein dämonisches Wesen, das auf einer Hecke oder auf einem Zaun sitzt. Vor dieser Zeit sprach man in der Regel von einer Zauberin. Eine Zauberin vollbringt magische Handlungen. Eine Hexe erlangt diese magischen Fähigkeiten mittels eines Teufelspakts. Zwar gibt es zwischen der Zauberin und der Hexe eine sehr klare terminologische Differenzierung, doch in der Alltagswelt konnten diese beiden Begriffe verschmelzen.
Welche Rolle spielte der Aberglaube?
Aberglaube oder den Glauben an magische Fähigkeiten finden wir zu jeder Zeit. Man muss sich fragen, wie der Begriff semantisch aufgeladen wurde. Aberglaube beinhaltet nämlich seit der Zeit der Aufklärung die Implikation, dass etwas irrational sein muss. Der Aberglaube widerspricht somit der Vernunft. Magische Praktiken ziehen sich aber durch die ganze Menschheitsgeschichte. Das ist kein Phänomen der frühen Neuzeit, es reicht bis in die Antike und noch weiter zurück. Es gab beispielsweise Liebeszauber, Wetterzauber oder auch Gesundheitszauber. Auch wurden magische Amulette getragen, um sich vor dem Bösen zu schützen.
Also waren diese magischen Praktiken gesellschaftlich akzeptiert?
Ja, das waren sie. Die spannende Frage ist, wann ist das gekippt, wann wurden sie fallweise zur Personifikation des Bösen. Erst um 1400 veränderte sich die Vorstellung: vom individuellen (Schadens-)Zauberer zu einer kollektiven Hexensekte.
Gab es einen Auslöser dafür?
Einen einzigen Auslöser gibt es zumeist nicht. Es ist eher ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren. Exogene Faktoren wie die Veränderung des Klimas oder auch endogene Faktoren wie ein Gerücht in einer Gemeinde konnten dazu beitragen. Und dann gab es auch regionale Unterschiede. Regionen, die beispielsweise vom Weinanbau lebten, sind kälte- und wetterempfindlicher. Dort ist zu berücksichtigen, inwieweit der Wetterzauber vertreten war. Im Hochstift spielte der Wetterzauber eine marginale Rolle. Hier in der Region finden wir die ersten Fälle von Hexenverfolgung Anfang des 16. Jahrhunderts. Gegen 1560 geht es über in eine Massenverfolgung, ihren Zenit erreichte die Verfolgung in den Jahren 1630 bis 1660. Eine Besonderheit stellt Fürstenberg dar: Dort wurden noch bis 1703 Hexenprozesse geführt – also zu einem Zeitpunkt, wo es den Gedanken der Aufklärung schon gegeben hat.
Was bedeutete es, als Hexe oder Hexer bezichtigt zu werden?
Beschuldigte wurden mit dem Schlimmsten – dem ultimativen Superverbrechen überhaupt – in Verbindung gebracht. Ihnen wurde vorgeworfen, von Gott abgefallen zu sein, dass sie mit dem Teufel paktieren und Schadenszauber betreiben würden. Das traf die Menschen an ihren neuralgischen Punkten wie ihrer Gesundheit und ihrer ökonomischen Existenz. Es ging um das Leben der Beschuldigten und auch das ihrer Familien. Das heißt, wir haben es mit einem ultimativen Stigma zu tun, wenn jemand als Hexe oder Hexer bezeichnet wurde. Das schlimmste Verbrechen der Frühen Neuzeit.
Sprich, alle wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt?
Das ist die pauschale Vorstellung eines Hexenprozesses. Für Fürstenberg habe ich andere Ergebnisse. Der oder die Angeklagte konnte sich durch die Folter, also durch Schmerzen, von dem üblen Vorwurf reinigen. Das nennt man „purgatio“. Diese Personen wurden dann auch wieder freigelassen. In Fürstenberg wurden 45 Prozent der Verfahren eingestellt. Und dann gibt es ein weiteres Vorurteil, mit dem ich aufräumen möchte: Die Menschen wurden nicht bezichtigt und direkt auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es gab geordnete Verfahrensweisen, die regional anders ausgestaltet sein konnten. Die Beschuldigten konnten fallweise in einem Prozess das Recht auf einen Anwalt und auf Akteneinsicht erhalten und somit die Möglichkeit, sich zu verteidigen.
Also gab es nicht den Automatismus: Anklage und Scheiterhaufen als Einbahnstraße?
Nein! Ein Prozess konnte sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinziehen. Und ein Gericht musste sich sicher sein, dass die Behauptungen, die Indizien, auch ausreichend waren. Und Hexenprozesse waren unglaublich teuer. Es fielen Kosten an für die Inhaftierung, die Reisekosten, den Richter, den Schreiber, den Hexengelehrten, den Folterknecht und auch für die Knechte und Tiere. Alles musste verwaltungstechnisch geregelt werden. Wenn es zu einem Urteil kam, dann fielen auch noch Kosten für das Holz an. All das musste von der Gemeinde bezahlt werden. Das muss man alles mitbedenken. Und noch etwas: Alle Gesellschaftsschichten waren gleichermaßen betroffen und konnten angeklagt werden.
Dann stellt sich die Frage, wer hat von den Prozessen profitiert? War es die Kirche?
Die Kirche hatte nichts mit den eigentlichen Hexenprozessen zu tun. Das ist so ein weiteres, sich hartnäckig haltendes Klischee. Die Prozesse wurden von einem weltlichen Gericht durchgeführt und der Landesherr bzw. die Ortsobrigkeit entschied. Die Entscheidung über eine Verurteilung lag nicht bei der Kirche. Profit ist immer auch etwas Monetäres. Ein Hexenprozess war wirtschaftlich aber eher ein Verlustgeschäft. Der Profit lag eher darin, dass Hexenprozesse für eigene Interessen in-strumentalisiert werden konnten. Die Ortsobrigkeit hatte das Recht, über das Leben einer Person zu entscheiden. Und das war das höchste Recht, das ausgeübt werden konnte. Es ging häufig um politische Macht, um Kommunikation, Kräftemessen und darum, Stärke zu zeigen. Auf der Ebene einer Gemeinde konnte ein Hexenprozess auch instrumentalisiert werden, um unliebsame Nachbarn oder politische Gegner beiseitezuschaffen.
Wieso hält sich das Gerücht, Kirche hätte die Urteile gesprochen, noch immer?
Bei der Hexenverfolgung handelt es sich meines Erachtens um das Thema mit den größten Klischees, Stereotypen, Irrtümern und Missverständnissen. Ich möchte dies noch deutlicher formulieren: Die Zeit der Hexenverfolgung ist ein ziemlich verstümmeltes Kapitel in der Geschichte. Denn es unterliegt seit mehr als 300 Jahren ganz unterschiedlichen Rezeptionen, sei es während der Aufklärung, der Romantik oder auch während der Nazizeit, als wieder ein germanisch-mythologisches Bild der Hexenverfolgung aufgegriffen wurde. Das Stereotyp der rothaarigen Hexe ließ sich wunderbar verkaufen, ähnlich wie sich auch Sex und Crime gut verkaufen. Die seriöse Forschung versucht, dagegen anzukämpfen.
Was führte schließlich das Ende der Hexenverfolgung herbei?
Die eine Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Wichtig war u. a. die Zeit der Aufklärung. Es wurde intensiv diskutiert, ob es tatsächlich Hexen gab und was Aberglaube war. Doch auch die Aufklärung hat die Hexenprozesse nicht beendet. Sie wurden nur umbenannt in Giftmordprozesse, aber im Kern waren dies Hexenprozesse. Ähnlich wie bei den Anfängen gibt es auch beim Ende nicht das eine auslösende Momentum. Viele Faktoren spielten hinein. Wir müssen uns das wie ein Mosaik vorstellen, bei dem viele einzelne Steinchen ein Gesamtbild ergeben.
In manchen Regionen werden noch heute Hexen verfolgt. Welche gesellschaftlichen Faktoren können Gründe dafür sein?
Angst und Unsicherheit – zwei Zustände, die für Menschen kaum zu ertragen sind. Sie zählen zu den extremsten Gefühlen, die ein Mensch haben kann. Ähnliche Gefühle haben wir während der Corona-Pandemie erlebt. Eine Gesellschaft braucht feste Normen und Regeln, um zu bestehen. Somit „produziert“ eine Gesellschaft auch automatisch „Abweichler“. Hexen waren eben diese Abweichler. Ökonomische Nöte können ebenso wichtige Faktoren sein. Und vergessen wir nicht den Gemeinschaftsgedanken, wenn wir über die Zeit der Hexenverfolgungen sprechen. Damals gab es ein völlig anderes Sozialgefüge. Die Menschen brauchten einander. Es wurde gemeinsam gebacken, gewaschen und die Felder bestellt. Und jetzt stellen wir uns vor, wenn in so einem Sozialgefüge, das auf den gleichen Werten beruht, Vertrauen in einen anderen verloren geht und man Angst haben muss, dass diese Person im Geheimen agiert und Menschen aus der Gemeinschaft Schaden zufügen will. Das löst Unsicherheit und Angst aus, und daran hat sich bis heute nichts geändert.