Viele haben etwas gewusst – Studie zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum Paderborn

Luftaufnahme vom Paderborner Dom. (Foto: Patrick Kleibold)

Spätestens seit 2010 erschüttert der Skandal um den sexuellen Missbrauch die katholische Kirche. Für das Erzbistum Paderborn arbeiten derzeit Prof. Dr. Nicole Priesching und Dr. Christine Hartig an einer historischen Studie. Im Exklusiv-Interview mit dem Dom ziehen sie eine erste Zwischenbilanz.

Frau Professorin Priesching, Frau Dr.Hartig, seit eineinhalb Jahren erforschen Sie die Akten des Erzbistums. Worüber geben die Akten Auskunft, worüber nicht?

Hartig: „Das kommt auf die Akten an. In den Personalakten von Beschuldigten begegnet man dem Thema sexueller Missbrauch nicht immer, manchmal sogar dann nicht, wenn das Generalvikariat Kenntnis von einem solchen Fall hatte. Relativ aussagekräftig sind die Akten bei den Fällen, in denen kirchliche Strafverfahren stattgefunden haben. Darin finden sich Informationen zu Opfern, Tatumständen und Wiederholungsgefahren. Wir haben schon festgestellt, dass es in der Bundesrepublik nur wenige kirchliche Strafverfahren gegeben hat. In der Zeit des Nationalsozialismus war das anders, da hat es eine hohe politische Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt von Klerikern gegeben. Eine Verurteilung vor einem weltlichen Gericht zog damals in etwa der Hälfte der Fälle ein kirchliches Strafverfahren nach sich. Das war dann in der Bundesrepublik nicht mehr so, da wurden vom Erzbistum Sanktionen eher auf dem Verwaltungsweg verhängt.“

Haben die Sittlichkeitsprozesse der NS-Zeit dazu geführt, dass man das Thema später kleiner gefahren hat?

Priesching: „Man hat diese Verfahren lange nur als antikirchliche Propaganda des NS-Regimes verstanden. Mittlerweile sehen wir aber, dass diesen Prozessen sehr wohl Straftaten zugrunde liegen konnten. Nach 1945 hat sich die Kirche als Opfer des Nationalsozialismus hingestellt. Dazu passte es nicht gut, eigenes schuldhaftes Verhalten in den Blick zu nehmen. Die katholische Bevölkerung hatte auch kein großes Interesse an diesen Fällen, weil sie die katholische Kirche als Bollwerk gegen den Nationalsozialismus und moralische Autorität nicht belasten wollte.“

Hartig: „Die Akten belegen, dass es auch in den Gemeinden Bemühungen gab, Vorwürfe intern zu lösen. Nicht systematisch, aber doch in einzelnen Fällen sehen wir, dass Menschen, die sich an das Generalvikariat gewendet haben, als Denunzianten bezeichnet worden sind. Manche wurden darauf hingewiesen, dass „diese Zeiten“ vorbei seien.“

Das bedeutet, man hat das Thema grundsätzlich geleugnet und gemeint, wer so etwas behauptet, der lügt?

Priesching: „Man hat es zumindest in der Schwebe gelassen, dass hier Denunziantentum oder Lügen vorliegen könnten. Dem, was wirklich dahinterstand, ist man vonseiten der Kirche nicht genau nachgegangen.“

Hartig: „Das war eine angenehme Möglichkeit, Vorwürfe von vorneherein zu diskreditieren.“

Aber der Hinweis auf die Nazizeit muss sich doch irgendwann erledigt haben.

Hartig: „Ja, er wurde wie gesagt auch nicht systematisch erhoben, sondern nur in Einzelfällen. Aber was sich durchgezogen hat, war das Desinteresse innerhalb des katholischen Milieus an einer Strafverfolgung durch weltliche Behörden.“

Können Sie schon Zahlen nennen? Wie viele Betroffene, wie viele Beschuldigte haben Sie bislang ermittelt?

Priesching: „Momentan wissen wir von 160 Beschuldigten in dem Zeitraum 1941 bis 2002 im Erzbistum Paderborn. Das ist aber noch keine abschließende Zahl, denn es können sich ja in der nächsten Zeit noch weitere Hinweise ergeben. Zu den Betroffenen können wir keine Zahl nennen. Die Zahl der Beschuldigten gibt nicht einfach die Zahl der Betroffenen wieder, da ca. 43% mehrfach beschuldigt wurden. Und wir haben das Problem, dass die Betroffenen in den Personalakten oft nicht kenntlich gemacht sind. Man ist den Fällen auch nicht so nachgegangen, dass man versucht hätte, alle Opfer zu ermitteln. Da ist also noch viel stärker als bei den nicht erfassten Beschuldigten mit einer Dunkelziffer zu rechnen.“

Wenn Sie von Betroffenen reden, geht es immer um Minderjährige?

Hartig: „In unseren Untersuchungen ja.“

Können Sie eine Dunkelziffer ermitteln?

Priesching: „Nein. Wir haben Hinweise aus verschiedenen Quellen, die nicht miteinander abzugleichen sind. Deswegen können wir keine Hochrechnungen machen. Es gibt auch sehr unterschiedliche Erfahrungswelten und das kann man mit einer Zahl nicht abbilden. Sie werden viele Leute treffen, die sagen, sie hätten nie so etwas mitbekommen, und es gibt Leute, die uns berichten, sie seien mehrfach und in verschiedenen Zusammenhängen mit dem Thema konfrontiert gewesen. Auch sagen die Zahlen nichts darüber aus, was die Opfer erlitten haben.“

Hartig: „Dass wir die Anzahl der Betroffenen letztlich nicht herausfinden können, liegt am systemischen Beschweigen. Das führte auch dazu, dass hier in den Akten Informationen fehlen. Das gilt übrigens auch für weltliche Akten. Auch dort hat es wenig Aufmerksamkeit dafür gegeben, das Leid der Opfer zu erfassen.“

Was meinen Sie mit „systemischem Beschweigen“?

Hartig: „Dass es oft nicht zur Strafverfolgung gekommen ist, lag nicht nur daran, dass es einen untätigen Erzbischof in Paderborn gab, sondern an vielen anderen Hürden, die überwunden werden mussten. Kinder haben oft gar nicht begriffen, was ihnen passiert ist. In vielen Familien wurde den Kindern nicht geglaubt. Manche Kinder hatten den Eindruck, dass ihre Eltern wissen, was passiert. Andere sind beschimpft worden, sie sollten nicht so über den Herrn Pfarrer reden. Wenn Kinder versucht haben, sich zu schützen und etwa nicht mehr zum Ministrantenunterricht gegangen sind, haben manche Eltern Druck ausgeübt, dass sie dorthin gehen. Wenn es doch einmal zu einer Strafanzeige gekommen ist, sind Familien oft an Ermittlungsbehörden geraten, die ihnen nicht geglaubt und den Kindern gedroht haben: Erzähl so etwas nicht, sonst kommst du ins Heim.

Manche Eltern haben aber auch nach Paderborn geschrieben oder sind dort sogar persönlich vorstellig geworden. Aber dann wurden sie abgewiesen. In manchen Fällen hat das Erzbistum zwar doch intern Ermittlungen aufgenommen, aber das war für die Betroffenen nicht ersichtlich. Zusammengefasst kann man sagen: Die fehlende Dokumentation des Erzbistums ist zwar wesentlich, weil das die Leitungsbehörde ist, aber es ist nicht die einzige Ebene, auf der das Benennen der Taten unterdrückt worden ist.“

Wer in der Kirche wusste denn von solchen Taten?

Priesching: „Mehr als man denkt. Da ist zunächst natürlich die Kirchenleitung, aber auch in den Gemeinden haben Leute etwas mitbekommen. Manche Beschuldigte wurden aus der Gemeinde genommen und in solchen Einrichtungen eingesetzt, von denen man glaubte, dort könnten sie keinen Schaden anrichten. In diesen Einrichtungen gab es eine Kontaktperson, die Bescheid wusste. Und vor Ort hat es sicher oft Gerüchte gegeben. Wir wissen von Fällen, dass Familien von betroffenen Kindern von ihrem Umfeld unter Druck gesetzt worden sind.“

Von wem und mit welcher Absicht?

Hartig: „Es war nicht selten so, dass Gemeindemitglieder sich für einen Kleriker eingesetzt haben, gegen den Vorwürfe bekannt geworden sind. In einem Fall war der Kleriker sogar verurteilt und die Gemeinde hat sich dafür eingesetzt, dass er trotzdem bleibt. Dadurch wurden Familien unter Druck gesetzt, damit sie den sexuellen Missbrauch nicht weiter bekannt machen. Betroffene Familien, die Vorwürfe angezeigt haben, sind danach in der Gemeinde nicht selten isoliert gewesen. Also, unter der Hand hat „man“ viel gewusst.“

Und woher wissen Sie heute davon?

Hartig: „Es gibt in den Akten Briefe von Pfarrgemeinderäten, die sich für ihren Pfarrer eingesetzt haben. Für die Sanktionierung war es übrigens sehr wichtig, ob die Tat vor Ort bekannt war oder nicht. Wenn sie bekannt war, musste aus Sicht des Erzbistums auf jeden Fall etwas unternommen werden. Wenn nicht, konnte man erstmal mit Ermahnungen oder Verboten agieren. Das belegt eben, dass es kein Bewusstsein für das Leid der Opfer gab, sondern im Vordergrund stand, das Ansehen der Kirche bzw. des Priesters zu schützen. Die ganzen Möglichkeiten des Kirchenrechts sind nur dann ausgeschöpft worden, wenn es zuvor ein weltliches Strafverfahren gegeben hat. Manches wissen wir über die Schilderungen von Betroffenen.“

Wie ist es zu solchen Strafverfahren gekommen?

Hartig: „Wenn es doch eine Anzeige gegeben hat. Es gehörte sehr viel Mut dazu, Anzeige zu erstatten. Aber wir haben auch Unterlagen, dass betroffene Familien ausdrücklich sagen, sie wollten keine Strafverfolgung, sondern einfach nur, dass der Kleriker wegkommt, also versetzt wird.“

Priesching: „Aber man muss auch sagen: Sexuelle Gewalt gegen Minderjährige war im ganzen Untersuchungszeitraum strafbar, ob in der Zeit des Nationalsozialismus oder danach in der Bundesrepublik. Es gab also immer die Möglichkeit, vor ein weltliches Gericht zu gehen und das anzuzeigen. Wenn das dann mal passiert ist, hat auch die Kirche nachgezogen und irgendwie reagiert. Anders herum ist es nicht passiert: Wenn die Kirche von einem Fall erfahren hat, zog sie sich auf den Standpunkt zurück, keine Anzeigepflicht zu haben, und hat kein weltliches Verfahren eingeleitet. Hier sprechen wir über Handlungsspielräume.“

Können Sie schon etwas zur Verantwortung des Leitungspersonals sagen?

Priesching: „Wir können schon jetzt für die Kardinäle Jaeger und Degenhardt feststellen, dass es eine Fürsorge für die Beschuldigten gegeben hat, teilweise auch schriftlich ausgedrücktes Mitgefühl, aber nicht gegenüber den Betroffenen. Für deren Schicksal haben sich beide Kardinäle nicht interessiert. Aus heutiger Perspektive muss man auch juristische Versäumnisse benennen. Das Kirchenrecht bietet eigentlich ein breites Instrumentarium, man hätte also viel häufiger kirchliche Verfahren einleiten können, hat es aber nicht getan. Zudem wurden verhängte Sanktionen nicht ausreichend kontrolliert. Durch die Versetzungspolitik hat man in Kauf genommen, dass sich Dinge wiederholen, und genau das ist dann ja auch leider immer wieder passiert. In manchen Fällen hat es Vereinbarungen mit Staatsanwaltschaften gegeben, dass auf Bewährung verurteilte Täter nicht mehr in Gemeinden eingesetzt werden sollen, und dennoch ist das geschehen. Indem man Betroffene und ihre Familien drängte, keine Anzeige zu erstatten, hat man auch versucht, weltliche Strafverfahren zu verhindern.“

War so etwas ein Versehen oder böser Wille?

Priesching: „Versehen wohl nicht, da diese Verhaltensweisen nach dem, was wir aus anderen Diözesen wissen, nicht ungewöhnlich waren. Böser Wille? Man meinte es mit den Tätern wohl gut, aber es fehlte eben auch der gute Wille, sich um die Opfer zu sorgen. Hier war man geradezu blind.“

Hartig: „Wie gesagt: Es gab keinerlei Sensibilität für den Schaden, den die Kinder genommen haben. Nicht nur im Erzbistum, auch vor Gericht nicht. Bei Taten unterhalb der Vergewaltigung, die in der Regel mit einer Bewährungsstrafe geahndet wurden, gingen auch Gerichte davon aus, dass Kinder keinen Schaden genommen haben. Die Tat galt zwar als ungesetzlich, aber man dachte, es habe das Leben der Kinder nicht massiv beeinflusst. Das Leben eines Klerikers dagegen, der zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden ist, befand man als massiv beeinflusst, weil er in seiner Integrität infrage gestellt worden ist. Der Schaden wurde also beim Kleriker gesehen.

Deswegen kam es überhaupt zu solchen Absprachen zwischen Staatsanwaltschaft und Erzbistum. Das Leitungspersonal des Erzbistums hat diese Versetzungen als Bußzeit für den Kleriker betrachtet. Dort konnte er über sich nachdenken, danach hat man ihm eine zweite Chance gegeben. Erschreckend ist, dass es wahnsinnig lange gedauert hat, bis man sich gefragt hat: Was machen wir eigentlich mit diesen Männern? Über Jahrzehnte gab es keine Therapiekonzepte. Auf manche hat man Druck ausgeübt, damit sie sich laisieren lassen. Damit war man die Verantwortung los.“

Wieso dachte man, dass Kinder keinen Schaden genommen haben?

Hartig: „Das entsprach den forensischen Diskursen damals. Man war auf körperliche Schäden fokussiert, für seelische Schäden gab es gar kein Vokabular. Die Folgen für Kinder wurden bis in die 1980er-Jahre vielfach als unproblematisch empfunden.“

[…]

In der Kirche wird es auch um Konsequenzen gehen. Wer muss die Ihrer Meinung nach ziehen?

Priesching: „Die Bistumsleitung wird sich das bestimmt gut ansehen und über Konsequenzen nachdenken. Das tut sie ja auch schon. Hier befinden wir uns in einem Lernprozess, zu dem die Studie hoffentlich etwas beitragen kann. Es ist sicher hilfreich, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, wenn man über die Kirche von morgen nachdenkt. Aber es betrifft nicht nur die Bistumsleitung. Wir Laien können nicht sagen: „Wir sind zwar das Volk Gottes, aber wir übernehmen keine Verantwortung.“ Laien haben dazu beigetragen, dass es so funktioniert hat, wie es funktioniert hat. Für uns alle in der Kirche stellt sich die Frage: Was können wir für die Zukunft lernen, was können wir besser machen?“

[…]

Das gesamte Interview kann in der DOM-Ausgabe Nr. 48 nachgelesen werden. Hier geht es zum E-Paper und zum Probe-Abo.

Das Interview führten Claudia Auffenberg und Andreas Wiedenhaus

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