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10.04.2024
Wer kümmert sich um sie bei Krankheit, Alter und Pflegebedürftigkeit? In dieser Situation will die Bundesregierung das Modell der sogenannten Verantwortungsgemeinschaft einführen.
Foto / Quelle: Harald Oppitz/KNA

Wissenschaftler: Institution Familie war nie statisch

Noch nie war Familie so vielfältig wie heute. Nun will die Bundesregierung auch eine Verantwortungsgemeinschaft etablieren.

Berlin

Die Diagnose ist klar: Das Zusammenleben von Menschen in Deutschland hat sich stark verändert. Neben der traditionellen Familie haben sich neue Lebensgemeinschaften etabliert: unverheiratete Eltern, Alleinerziehende oder gleichgeschlechtliche Paare mit Kind. Am Dienstag entschied das Bundesverfassungsgericht, dass auch eine Drei-Eltern-Familie rechtlich möglich sei. Zugleich sorgt die alternde Gesellschaft für Handlungsdruck: Immer mehr Bundesbürger leben allein. 2022 gab es in Deutschland 16,7 Millionen Haushalte, in denen nur eine Person wohnte.

Wer kümmert sich um sie bei Krankheit, Alter und Pflegebedürftigkeit? In dieser Situation will die Bundesregierung das Modell der sogenannten Verantwortungsgemeinschaft einführen. Menschen, die dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen, sollen sich rechtlich absichern können.

Wie organisieren Gesellschaften soziale Unterstützung? Eine im Januar vorgelegte Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock weist der Familie auch in Zukunft große Bedeutung zu. Ein großer Teil der Weltbevölkerung habe derzeit keinen Zugang zu sozialen Unterstützungssystemen außerhalb von Familien. „Für sie sind familiäre Bindungen nach wie vor eine wichtige Quelle der Unterstützung und informellen Pflege, und dies wird wahrscheinlich auch in Zukunft so bleiben.“

Zugleich verweist die Studie auf einen weltweiten Trend: Verwandtschaftliche Ressourcen seien auf dem Rückzug. Die Familiennetzwerke würden nicht nur kleiner, sondern auch älter. So werde die Zahl der Verwandten, die ein Mensch hat, weltweit in naher Zukunft um mehr als 35 Prozent abnehmen. Gleichzeitig verändert sich die Struktur der Familien. Die Zahl der Cousins und Cousinen, Nichten, Neffen und Enkelkinder wird stark abnehmen, während die Zahl der Urgroßeltern und Großeltern deutlich wächst.

1950 hatte eine 65-jährige Frau im Durchschnitt 41 lebende Verwandte. 2095 werden es nur noch 25 sein. Den größten Rückgang erwarten die Wissenschaftler in Südamerika und der Karibik. In Nordamerika und Europa, wo die Familien schon heute vergleichsweise klein sind, würden die Veränderungen weniger ausgeprägt sein. Hier hatte eine Frau im Alter von 65 Jahren 1950 etwa 25 lebende Verwandte, im Jahr 2095 werden es nur noch 15,9 sein.

Verständnis von Familie stark verändert

Zugleich hat sich in Deutschland das Verständnis von Familie stark verändert. Unverheiratet mit Kind, Patchwork- oder Regenbogen-Familie – die Formen, in denen Menschen zusammenleben, sind vielfältig. Die Normalfamilie ist auf dem Rückzug. Historiker und Soziologen verweisen indessen darauf, dass die lange als Norm geltende Kleinfamilie auch in der Vergangenheit die Ausnahme war.

Das bürgerlich-christliche Familienbild, das von mindestens zwei Generationen, zwei verschieden-geschlechtlichen Eltern und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen diesen Personen ausgeht, sei ein Ideal gewesen, das mit dem Wachstum der Städte und der Entwicklung des Bürgertums in Europa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sei, sagt der Potsdamer Historiker Christopher Neumaier. Besonders dominant sei es nach dem Zweiten Weltkrieg geworden, als die Sehnsucht nach Geborgenheit und Stabilität besonders groß war.

Historisch betrachtet, gab es vorher eine ganze Reihe unterschiedlicher Familienformen: So lebten in Bauern-, Handwerker- oder Stadtbürgerfamilien häufig noch Gesinde, unverheiratete Verwandte oder auch mehrere Kernfamilien zusammen. „Die sozialen und rechtlichen Beziehungen in dieser Gemeinschaft waren sehr vielfältig – denken Sie etwa an die Autorität des Hausvaters über Familien und Gesinde“, sagt Neumaier.

Auch die bürgerliche Familie selber war nicht so statisch, wie oft vermittelt wird. Bis weit ins 20. Jahrhundert habe es beispielsweise die „Hausfrau“ gar nicht gegeben. Arbeiterfrauen mussten in der Fabrik schuften, Bauersfrauen arbeiteten auf dem Feld mit, und auch Handwerkerfrauen holten Aufträge ein und managten Haushalt und Gesinde.

Soziologen verweisen indessen darauf, dass die Sehnsucht nach stabilen Lebensformen groß bleibt. Das zeige sich schon daran, dass auch Homosexuelle lange und intensiv für eine Anerkennung der Homo-Ehe gekämpft hätten.

(KNA)
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