Ungeliebte Solidarität
Herbsttagung des Sozialwissenschaftlichen Arbeitskreises der Kommende Dortmund.
Die Sicherung des sozialen Zusammenhalts sowie Perspektiven der sozial-ökologischen Transformation standen im Mittelpunkt der Herbsttagung des Sozialwissenschaftlichen Arbeitskreises des vom Erzbistum Paderborn getragenen Sozialinstituts Kommende Dortmund. Gemeinsam mit Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz diskutierten Wissenschaftler bei ihrer Tagung in Paderborn die aktuelle Situation der gesellschaftlichen Entwicklung angesichts der drängenden Entwicklungen.
Erzbischof Dr. Bentz verwies in seiner Einführung auf den inneren Zusammenhang der sozialen und ökologischen Herausforderungen. In der kirchlichen Sozialverkündigung hatten darauf schon die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. aufmerksam gemacht. Papst Franziskus hatte in seiner viel beachteten Enzyklika Laudato Si‘ vor zehn Jahren die Soziallehre der Kirche in einem Konzept der integralen Ökologie fortgeführt. Der doppelten Not – das Leiden der Armen und der Schrei der Erde – könne nur entgegengewirkt werden, indem die soziale und ökologische Krise gleichzeitig gelöst werde.
Der Blick auf das Ganze fehlt
Problematisch sei in dieser Lage die Ausdifferenzierung der Wissenschaft in spezialisierte Fachdisziplinen. Dadurch gerate – so Papst Franziskus – der Blick auf das Ganze, auf das „gemeinsame Haus“, in den Hintergrund und in Folge davon die ethische Dimension. Notwendig sei daher das interdisziplinäre Gespräch zur Lösung der Krisen. Erzbischof Dr. Bentz fragte in seiner Einführung, ob das ethische Leitmotiv der sozialen Gerechtigkeit nicht um die „Klimagerechtigkeit“ erweitert werden müsse. Angesichts der geopolitischen Lage mit zunehmenden imperialen Bestrebungen und den Verschiebungen in der politischen Kultur müsse deutlich betont werden, dass ein dauerhafter Frieden die soziale Gerechtigkeit voraussetze. Konfliktlösungen ohne Gerechtigkeit, auch Klimagerechtigkeit, herzustellen, seien billige Kompromisse, betonte der Paderborner Erzbischof.
In seinem Vortrag zu „Gesellschaftlichen Solidaritätsverhältnissen“ kritisierte der Sozialethiker Professor Dr. Hermann-Josef Große-Kracht vom Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt die gegenwärtige emotional aufgeladene Debatte um die Solidarität. Solidarität werde von den einen als individuelle moralische Tugend, von anderen als soziales Gefühl, von dritten als zarte mitmenschliche Hilfsbereitschaft beschrieben. Solidarität sei aber kein Gefühl, sondern ein „stahlhartes Wort“ (Kurt Eisner). Solidarität spiegelt die faktisch zunehmenden gesellschaftlichen Abhängigkeiten der Menschen. Als solche ist Solidarität Voraussetzung von Freiheit und Gleichheit und es besteht – gerade zur Sicherung der Freiheit – eine Pflicht zur Solidarität. Im wirkmächtigen Liberalismus der Moderne sei diese Einsicht vergessen, erklärte der Wissenschaftler der TU Darmstadt. Und bis heute sei sie ein „Stiefkind der Moralphilosophie und Gesellschaftstheorie“ (Herwig Münkler). Professor Große-Kracht forderte von daher, Freiheit und Solidarität auf eine neue postliberale Weise zusammenzudenken.
Ein Modell dazu sei der jesuitisch geprägte Solidarismus, ein zentrales Element der katholischen Soziallehre des 20. Jahrhunderts. Er biete ein argumentativ und normativ plausibles Programm einer postliberalen Wohlfahrtsdemokratie, „ohne die ein gelingendes menschliches Zusammenleben in sozialer Freiheit und Gemeinschaft“ nicht möglich sei. Professor Große-Kracht verwies angesichts der aktuellen vielzitierten „liberalen Demokratie“ auf das deutsche Grundgesetz. Die Verfassung spricht nicht von einer liberalen Demokratie, sondern von einem demokratischen und sozialen Bundesstaat.
Aus der Peripherie kommt die Innovation
Der Soziologe Professor Dr. Berthold Vogel vom Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) der Georg-August-Universität Göttingen überraschte in seinem Vortrag die Teilnehmenden des Sozialwissenschaftlichen Arbeitskreis mit der Aussage: „Aus der Peripherie und nicht aus dem Zentrum kommen die eher innovativen Ideen.“ Professor Vogel, der seit vielen Jahren ein umfangreiches Projekt zum sozialen Zusammenhang leitet, stellte in seinem Vortrag das Konzept der „sozialen Orte“ vor. Diese Theorie fußt auf zahlreichen empirischen Untersuchungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Untersuchungen zeigen einen anhaltenden und tiefgreifenden Verlust von Zuversicht und Zukunftsvertrauen. Dieser sei nicht nur „kein gutes Zeugnis“ für unsere Gesellschaft, sondern gefährde die Demokratie. Um dieser Entwicklung entgegen zu wirken, müsse das Lokale, die kommunale Basis, gestärkt werden. Das Misstrauen und die Unzufriedenheit in der Gesellschaft korrespondiere mit der Lage der Kommunen. „Wir zahlen“, so Professor Vogel, „den Preis für die Vernachlässigung des Kommunalen, des Lokalen.“
Die empirischen Forschungen zeigen dabei, dass innovative Lösungen vor allem auf dem Land im Gegensatz zu den städtischen Zentren entstehen. Im Ländlichen fänden sich die Virtuosinnen und Virtuosen des Wandels, diagnostizierte Professor Vogel. Soziale Orte – etwa lokale Treffpunkte, kommunale Netzwerke, Jugendarbeit oder Projekt der Flüchtlingshilfe – seien insofern Orte der Zukunftsenergie. Sie schaffen Öffentlichkeit und finden gemeinsame Kompromisse in heterogenen Interessenlagen. Wichtig seien für den Erfolg, so die Beispiele des Gelingens, die Unterstützung durch eine risikofreudige Verwaltung, einer innovationsfähigen Zivilgesellschaft und investitionsbereiten lokalen Unternehmen und Betrieben. Wichtig sei dabei, so der Soziologe Professor Vogel, dass es nicht darum gehe, zu gemeinsam geteilten Ansichten, sondern zu „gemeinsame Aussichten“ (Simon Strauß) zu kommen.
Das größte Marktversagen: Klimaschutz
In die Herausforderungen der sozial-ökologischen Transformation führte am Beispiel der Energiewende Professor Dr. Andreas Löschel ein. Löschel lehrt Umwelt-/Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit an der Ruhr-Universität Bochum und ist der koordinierende Leitautor des Weltklimarats zum Kapitel Energiesysteme. „Klimaschutz ist das größte Marktversagen, dass die Welt jemals gesehen hat“, beschrieb Professor Löschel das soziale Dilemma in der Transformation. Klimaschutz sei ein öffentliches Gut, das auf Kosten-Nutzen-Kalküle der Einzelnen treffe. Daher komme es für das Gelingen der Transformation darauf an, hohe Kosten zu vermeiden, die vor allem arme Haushalte überdurchschnittlich belasten.
In den aktuellen politischen Instrumenten der Energiewende seien die Preise ungerecht. Zentral für die wichtigen ökonomischen Anreize für nachhaltiges Handeln sei es, den „Preis der Energiewende“ richtig zu setzen. Dazu gehöre auch, die oft überschätzten Kosten der Energiewende sichtbar zu machen und den unterschätzten Nutzen dagegen zu stellen. Es müssten die positiven Beispiele und der Mehrwert für die breite Masse der Bevölkerung hervorgehoben werden. Kriterien der Energiewende seien, die zukünftige Energieversorgung in dreifacher Weise zugleich sauber und sicher sowie bezahlbar zu gestalten.
Ausgleichsmaßnahmen zwischen Oben und Unten war auch ein Vorschlag von Dr. Martin Fritz vom Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller Universität Jena. Dr. Fritz referierte Ergebnisse von Forschungen zu „Mentalitäts- und Interessengegensätzen im Streit um Transformation“. Neben dem sozialen Ausgleich seien die Förderung öffentlicher Infrastrukturen, die Suffizienz als Bruch mit den aktuellen Wachstumszwängen und eine demokratische Partizipation wichtig. Religion und Kirche könnten dabei eine wichtige Rolle übernehmen. Das Motiv der „Bewahrung der Schöpfung“ könnte als übergreifende Vorstellung unterschiedliche Mentalitäten und Werte sowie Interessen zusammenbringen.
Kirchliche Umweltarbeit
Der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten der deutschen Diözesen, Mattias Kiefer aus München, referierte abschließend den Stand der kirchlichen Umweltarbeit. Nach zunächst eher einzelnen Aufbrüchen hat die Enzyklika Laudato Si‘ von Papst Franziskus im Jahr 2015 der kirchlichen Umweltarbeit einen großen Schub gegeben. Mittlerweile ist in allen Diözesen das Thema der Verantwortung der Schöpfung präsent. Der konkrete Fortschritt vor Ort stehe aber auch in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Trends. Die Beobachtung, dass gegenwärtig die Klima-, Umwelt- und Naturschutzpolitik angesichts der aktuellen Kriege und geopolitischen Verwerfungen als weniger wichtig gewertet wird, gelte nach einigen Jahren einer Erfolgsgeschichte auch für den kirchlichen Bereich.
Im Fazit der Tagung wurde betont, wie wichtig die sozialwissenschaftliche Forschung für die Lösung der Zukunftsfragen ist. Entscheidend für den Beitrag der wissenschaftlichen Projekte wird sein, im interdisziplinären Gespräch den Zusammenhang mit den sozial-ökologischen Herausforderungen herzustellen.
Hintergrund
Der interdisziplinäre Sozialwissenschaftliche Arbeitskreis des Sozialinstituts Kommende Dortmund berät die Leitung des Erzbistums Paderborn in aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen. Ihm gehören Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Theologie, Sozialwissenschaften, Wirtschaft und Recht an. Sie kommen zweimal jährlich mit dem Erzbischof von Paderborn zusammen.