„Solche Forderungen sind brandgefährlich“
Carlo Masala ist einer der gefragtesten Militärexperten in Deutschland. Seit wenigen Wochen ist er außerdem Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Im Interview spricht er über seinen Glauben und christliche Aufrufe, Europa müsse abrüsten.
Sie sind seit Mai Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Was ist Ihre Aufgabe?
Im ZdK ist zwar viel Expertise vorhanden. Aber in meinem Arbeitsbereich, der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ist sie seit dem Rückzug der früheren Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nicht mehr sonderlich ausgeprägt.
Sie haben in einem Interview mal gesagt, Sie seien durch die Kirche und ihre Grundsätze geprägt. Können Sie das näher ausführen?
Ich bin in einen italienischen Kindergarten gegangen, der von Nonnen geleitet wurde. Ich war in meiner Jugend in der Kirche im Chor aktiv. Vor allem die Prinzipien der katholischen Soziallehre sind in mir tief verwurzelt. Etwa der Einsatz für soziale Gerechtigkeit, das Schauen auf Schwächere. Aber wie viele Katholiken habe ich zuweilen Probleme mit der Institution.
Was meinen Sie?
Die Art, wie weite Teile der Kirche mit den Missbrauchsfällen umgegangen sind, finde ich skandalös.
Wie sieht Ihr Glaubensleben heute aus?
Ich bin kein regelmäßiger, aber ein sporadischer Kirchgänger. Von den Zehn Geboten und der Bergpredigt versuche ich mein Leben leiten zu lassen. Auch habe ich Kontakt zu einigen Priestern, mit denen ich mich über Glaubensfragen austausche. Beruflich komme ich regelmäßig mit beiden Militärbischöfen, katholisch und evangelisch, zusammen.
Der Vatikan lehnt den Besitz von Atomwaffen als „ethisch nicht vertretbar“ ab. Die deutschen Bischöfe haben jüngst angemerkt, es sei „höchste Zeit, aus der Abschreckung mit Nuklearwaffen auszusteigen“. Was sagen Sie dazu?
Natürlich sind Atomwaffen amoralisch, weil sie wahllos töten, nicht nur Kombattanten, sondern mehrheitlich Zivilisten. Auch die Folgen für nachfolgende Generationen sind furchtbar. Aus ethisch-philosophischer Perspektive kann ich verstehen, dass die Kirche Nuklearwaffen ablehnt. Dennoch ist eine atomwaffenfreie Welt kurz- und mittelfristig völlig unrealistisch. Der bloße Besitz von Nuklearwaffen schützt die Nato vor Krieg.
Die militärische Bedrohung Europas durch Russland hat seit dem Ukraine-Krieg stark zugenommen. Trotzdem forderte Pax Christi die Nato im Juni auf, endlich den „Aufrüstungswahn“ zu stoppen. Abschreckung schaffe keinen Frieden. Was antworten Sie?
Solche Forderungen verkennen nicht nur die Realität, sie sind auch brandgefährlich. Wir haben es bei Russland mit einem Staat zu tun, der die europäische Sicherheitsarchitektur komplett abwickeln will, der Drohungen gegen all seine Nachbarn ausstößt, sogar gegen solche, die keine militärische Bedrohung darstellen. Russland führt seit dreieinhalb Jahren Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung mit dem erklärten Ziel, die Identität dieses Volkes zu vernichten. Wer in dieser Situation die Nato zur Abrüstung auffordert, der betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr und plädiert dafür, Europa wehrlos zu machen.
Haben Sie eine Idee, wie es zu solchen Denkweisen kommt?
Solche Menschen haben wahrscheinlich ein Problem damit, liebgewonnene Sichtweisen aufzugeben. Sie glauben noch immer, alles ließe sich mit Dialog lösen, und weigern sich anzuerkennen, dass es heute einige Staaten gibt, die sich nicht besänftigen lassen, bis sie zu 100 Prozent bekommen haben, was sie wollen.
Papst Franziskus hat mal erklärt, dass ein Dritter Weltkrieg unaufhaltsam sei und „in Etappen“ bereits begonnen habe. Teilen Sie diese Einschätzung?
Auch ich habe den russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine mal als postmodernen Weltkrieg bezeichnet. Mit Frankreich, Großbritannien und den USA unterstützen drei Nuklearmächte die Ukraine. Russland ist eine Nuklearmacht. Die Nuklearmacht Nordkorea schickt Soldaten. Die Nuklearmacht China unterstützt Russland politisch, ökonomisch und technologisch und Indien sorgt dafür, dass Russland weiterhin sein Öl verkaufen kann. Von weltweit neun Nuklearmächten sind also sieben beteiligt. Das hat zum Teil Züge eines Weltkrieges. Auch steht der Ukraine-Krieg für den Kampf um eine neue Weltordnung. Wenn Russland gewinnt, sendet dies Signale bis hin nach China aus. Der Ukraine-Krieg ist zumindest ein Weltordnungskonflikt.
War Jesus für Sie ein Pazifist?
Nein. Auch wenn da manche Exegeten anderer Auffassung sind: Jemand, der die Händler aus dem Tempel vertreibt, wendet Gewalt an. Bei manchen theologischen Debatten irritiert mich ohnehin eher, dass kaum ein Christ die Legitimität der Polizei infrage stellt. Das Problem fängt meist an, wenn wir uns in der internationalen Politik bewegen. Da stellen Menschen plötzlich Prinzipien infrage, die sie innerhalb eines Staates akzeptieren.
Haben Sie noch Hoffnung, dass wir in Europa bald wieder eine ähnlich lange Friedensperiode erleben werden wie vor dem 24. Februar 2022?
Uns steht in Europa noch eine längere Phase der Konfrontation mit Russland bevor. Egal wie der Krieg in der Ukraine ausgeht: Russland wird weiter versuchen, mit seiner hybriden Kriegsführung europäische Gesellschaften zu destabilisieren und das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktion von Demokratien zu unterminieren.