„Singen ist doppeltes Beten“
Kirchenmusik ist eine kraftvolle Ausdrucksform des Glaubens. Durch ihre Spiritualität unterscheidet sie sich von vielen anderen musikalischen Ansätzen und verleiht ihr so ihre Bedeutung. Dom-Redakteur Patrick Kleibold sprach mit dem Kirchenmusiker und Domkapellmeister am Hohen Dom zu Paderborn, Thomas Berning, darüber, was gute und schlechte Kirchenmusik ausmacht.
Welche Bedeutung hat Kirchenmusik für den Glauben und die Gemeinde?
„Wer singt, betet doppelt“, sagte einst der heilige Augustinus. Durch das Singen nehmen wir den Text und das Gebet auch körperlicher und emotionaler wahr. Kirchenmusik bietet eine sehr gute Möglichkeit, die Botschaft in Gebet und Predigt emotional besser zu transportieren, sowohl durch das eigene Singen als auch durch das Hören. Kirchenmusik ist für mich daher sehr wichtig, um die Frohe Botschaft ansprechend und abwechslungsreich zu verkünden. Und dann hat die Kirchenmusik auch noch eine bindende Kraft auf Kinder und Gemeinschaften. Das erlebe ich täglich. Derzeit haben wir in der Paderborner Dommusik über 400 Akteure, darunter viele Kinder und Jugendliche. Die kommen jede Woche zu uns, und für sie ist der Dom ein ganz natürlicher Lebensraum geworden, in dem sie sich ganz unbefangen bewegen. So was ist in der heutigen Zeit nicht mehr selbstverständlich. Und es ist schön zu sehen, dass sie durch die Kirchenmusik mit den Liedern und liturgischen Texten ganz natürlich in Verbindung kommen und Freude daran haben. Glaube ist keine reine intellektuelle Entscheidung, sondern etwas, das man lebt. Das Dabeisein und Mitmachen ist ein wesentlicher Faktor unseres Glaubenslebens.
Wann ist Kirchenmusik gut und wann ist sie schlecht?
Kirchenmusik ist dann gut, wenn sie die Botschaft des Evangeliums zu verstehen oder zu ergreifen hilft. Kirchenmusik ist dann schlecht, wenn sie von diesem Gedanken wegführt, sich nur selbst zelebriert oder nicht zu den Glaubensinhalten passt. Gerade auf der Orgel gibt es viele Versuche, moderne Popmusik einzubinden, um so ein junges Publikum anzusprechen. Zum Teil ist das richtig, birgt aber auch die Gefahr, dass Inhalte unkritisch übernommen werden, die mit Kirche und Kirchenmusik nichts zu tun haben oder ihr sogar konträr gegenüberstehen. Und dann gibt es noch sehr seichte Kirchenmusik, die einem das Gefühl gibt, dass die Botschaft zu sehr auf ein „Wellness-Christentum“ zugeschnitten wird. Kirchenmusik muss ehrlich sein und unter Umständen mal anecken dürfen. Sie darf nicht nur auf eine atmosphärische Wirkung heruntergebrochen werden.
Was unterscheidet Kirchenmusik von klassischer Musik?
Die Entwicklung der klassischen Musik in ihren Anfängen ist ganz aus der Kirchenmusik heraus entstanden, ähnlich wie es bei der Malerei und bildenden Kunst ist. In der Kirchenmusik gab es aber auch viele Einflüsse aus der jüdischen Kultmusik und aus der weltlichen Volksmusik. Im Trienter Konzil wurde im 16. Jahrhundert die ausufernde Praxis, Messkompositionen auf weltliche Themen zu schreiben, eingeschränkt. Das wäre so, als würden wir heute eine Messe schreiben, dessen Motive z. B. aus dem Lied „Atemlos durch die Nacht“ entlehnt wären. Seit die Popmusik zum täglichen Begleiter geworden ist, ist das natürlich auch ein riesiger Einfluss auf die Kirchenmusik. Es ist leider so, dass die Beschäftigung mit Kirchenmusik in der führenden Komponistenriege, die man der Klassik zurechnet, sehr an Bedeutung eingebüßt hat. Das ist sehr schade, wenn wir bedenken, dass das 20. Jahrhundert noch so epochale Werke wie das War-Requiem von Benjamin Britten oder das Lebenswerk von Olivier Messiaen hervorgebracht hat.
Über 400 Akteure am Dom: Wie gelingt es Ihnen, so viele Kinder und Jugendliche zu begeistern?
Wir fangen bereits im Kindesalter an. Kinder sind bis zu einem Alter von acht bis neun Jahren völlig offen für jede Form und jeden Stil von Musik. Durch das Singen von klassischen und auch kindgerechten Volksliedern führen wir sie heran an eine Art des Singens, die eher in die klassische Richtung führt. Wir vermitteln keine Gesangstechniken, wie man sie aus der Popmusik kennt, denn unser Ziel ist es, dass die Kinder später klassische Chormusik singen können. Zum Glück gibt es sehr viele auch neue Lieder, die rhythmisch sind und eingängig, gesanglich aber einen klassischen Ansatz haben. Die Erfahrung ist, dass die Kinder schon nach kurzer Zeit Lust darauf kriegen, auch komplizierte Themen zu singen. Sie wollen gefordert werden. Und so kommt es dann auch, dass sie bereits mit zehn oder zwölf Jahren ihre ersten echten Motetten und Messkompositionen singen. Die Musikrichtung ist egal, solange die Kinder Spaß haben und ihre Stimme gefordert wird. Und dann sind es einfach die tollen Rahmenbedingungen, die wir haben, die die Kinder gerne zu uns kommen lassen.
Kann jedes Kind das Singen erlernen?
Ich glaube, dass jedes Kind eine Anlage zum Singen hat. Meine 18-jährige Erfahrung am Dom zeigt aber auch, dass nicht jedes Kind die Anlage hat, sich beim Singen in einem Chor klanglich einzufügen. Das bedeutet nicht, dass das Kind nicht singen kann, aber vielleicht passt es mit seiner Stimme besser in eine andere Richtung. Leider mussten wir auch schon zu Kindern sagen, dass sie mit ihren Stimmen die Töne der anderen Kinder nicht finden. Manchmal reicht es halt nicht. Hin und wieder gibt es auch Kinder, die haben eine ganz tolle Eigenstimme, aber diese lässt sich nicht unbedingt in einen Chor integrieren. Andere Kinder wiederum singen die Töne direkt lupenrein vor. Wir machen die Erfahrung, dass gerade diese Kinder häufig aus Familien kommen, in denen bereits die Eltern im Chor gesungen haben.
Was braucht es, dass verschiedene Stimmen gut miteinander funktionieren?
In der Kirchenmusik braucht es eine Kultur des Hörens. Alle in einem Chor müssen lernen zu hören. Gerade in der heutigen Zeit fällt das vielen immer schwerer, weil jeder von allen Seiten mit unzähligen Eindrücken konfrontiert wird. Es ist wichtig, sich von solchen Störfaktoren abzuschotten, um genau hinhören zu können. Es geht da um Nuancen. Wir versuchen daher im ersten Schritt die Kinder zu beruhigen, um sie mit Blick auf die Musik lebendig zu machen. Für mich ist das auch eine gute Lebensschulung, denn nur wer genau hinhört, der kann auch verstehen. Wenn viele Stimmen am Ende wie eine einzige klingen, dann funktioniert für mich der Chorgesang. Das ist dann auch eine tolle Erfahrung für die Sängerinnen und Sänger, wenn sie als Team funktionieren.
Musik entwickelt sich: Sehen sie aktuelle Entwicklungen in der Kirchenmusik?
Hier am Dom haben wir wohl nicht den tiefen Blick, was die Musik in den Gemeinden betrifft. Wenn ich rumkomme, dann stelle ich jedoch häufiger fest, dass sich in den vergangenen 20 Jahren viel verändert hat, leider nicht immer zum Guten. Gerade bei Hochzeits- oder Beerdigungsgottesdiensten gibt es immer mehr Anforderungen an die Kirchenmusik, eben keine Kirchenmusik mehr zu sein. Es wird häufig versucht, Lieblingsstücke in die Kirche zu holen, und der Organist muss sich dann damit quälen, das von YouTube möglichst gut abzuhören und wiederzugeben. So nimmt das Banale immer mehr Einzug in den Gottesdienst. Das sollte nicht der Anspruch der Kirchenmusik sein. Es ist schade, dass diese Entwicklung so rasant zunimmt, denn gerade die Kirchenmusik kann besondere Erlebnisse erzeugen, mehr als viele Musik, die wir eh täglich im Radio hören. Schade ist auch, dass mit Beginn der Corona-Pandemie ein allgemeines Chorsterben bei Kirchenchören eingesetzt hat und das traditionelle Muster – Gemeinde trifft sich im Gottesdienst – immer mehr wegbricht. Wir werden sehen, wo das hinführt. Ich hoffe, wir erleben nur einen Umbau und nicht das Sterben der gemeindlichen Kirchenmusik.
Inwieweit sind Sie offen für neue Entwicklungen?
Wenn ich sehe, was wir im Dom in den Gottesdiensten singen, dann ist da in meiner Dienstzeit sehr viel Neues dazugekommen. Vor allem ganz liturgische Chormusik wie Kantoren-Verse, Halleluja-Codas, Chor-Überstimmen, Liedsätze, darunter auch viel eigenes vom Domkantor, Domorganisten und mir. Am Dom ist es unsere Aufgabe, das reiche Erbe der Kirchenmusik zu pflegen. Das bedeutet, dass wir versuchen, den Blick zurück und nach vorn wachzuhalten. Uns ist es wichtig, dass Chor und Gemeinde nicht nebeneinander her wirken, und da sind wir immer auf der Suche nach guten Ideen.
Welche Kompetenzen braucht ein Kirchenmusiker?
Die wichtigste Kompetenz ist Begeisterungsfähigkeit. Ein Kirchenmusiker sollte die Menschen um sich herum motivieren können. Wir von der Dommusik bündeln sehr viele Menschen um uns herum. Sie bleiben uns treu und finden über uns und über die Musik den Weg zur Kirche und zum Glauben. Ich bin mir sicher, dass die Bedeutung des Kirchenmusikers als pastoraler Mitarbeiter – ja als Mitverkünder – immer bedeutsamer wird. Ebenso wichtig sind die musikalischen Kompetenzen: Es muss spielerisch leicht aussehen, was man tut, auch wenn es das nicht ist. Es braucht daher eine sehr gründliche Vorbereitung. Ein Kirchenmusiker sollte zudem gut Klavier spielen können, eine vorbildhafte Stimme besitzen und gut kommunizieren können. All dies setzt eine gute Ausbildung voraus.
Was hören Sie privat?
Privat höre ich nicht sehr viel Musik, da ich den ganzen Tag von ihr umgeben bin. Privat lese ich gerne, bewege mich in der Natur und genieße auch mal die Stille. Ich höre auch keine Musik nebenbei, es sei denn im Auto. Und da kann ich mich tatsächlich auch für aktuelle Popcharts begeistern. Da höre ich vieles, was mir gut gefällt. Ich habe auch riesigen Respekt vor den ganz großen Musikerinnen und Musikern der Popmusik. Ich schaue mir gerne Dokumentationen über das Leben unterschiedlicher Künstlerinnen und Künstler an, wie beispielsweise über das Leben von Whitney Houston oder von Paul McCartney. Vor solchen Künstlern ziehe ich meinen Hut, egal, aus welcher Richtung das kommt.
Haben Sie ein Lieblingslied?
„The Long And Winding Road“ von den Beatles.
Zur Person
Thomas Berning ist ein deutscher Kirchenmusiker und Domkapellmeister am Hohen Dom zu Paderborn, Dirigent und Hochschullehrer. Bevor er 2007 das Amt des Domkapellmeisters antrat, machte er sich an seinen vorherigen Wirkungsstätten in Herten und Heidelberg einen Namen als Konzertorganist und Chordirigent. Seit seinem Amtsantritt erfuhr die Dommusik zahlreiche strukturelle Neuerungen. Dazu zählen der Umbau des Hauses der Dommusik, die Gründung der Mädchenkantorei, die Gründung des „Freundeskreises Dommusik“ sowie der Aufbau einer Schulkooperation mit den Michaelsschulen Paderborn.