
„Dieses Haus ist unser Gedächtnis“
Im Paderborner Franziskanerkloster kümmern sich die Brüder Damian Bieger und Hans-Ulrich Kordwittenborg um das Erbe ihrer Gemeinschaft.
Depot – das hört sich nach einem düsteren Keller an, nach jeder Menge Kunstwerke, die kreuz und quer durcheinander liegen. Chaotisch und bedrängt eben. Da muss Bruder Damian OFM die Erwartung enttäuschen. Er öffnet die Tür der ehemaligen Klerikatskapelle im Paderborner Kloster. Im Sommer 2024 wurde sie zum Depot – Bruder Damian spricht gerne von einem „Gedächtnisspeicher“ – umgebaut.
Der erste Eindruck: Es ist hell und sehr ordentlich. „Dieses Haus ist unser Langzeitgedächtnis“, sagt Damian Bieger unaufgeregt. Der Franziskaner geht auf ein Ensemble aus vier Figuren zu: der gekreuzigte Jesus und drei Frauen. „Das stammt aus Schlesien.“ Dann greift er in eine andere Ecke des mit seinen weißen Tapeten schmucklos wirkenden Raumes. Ein Stock kommt zum Vorschein. 1890–1940: Diese Zahlen sind noch immer auf dem Kunstwerk aus Holz zu lesen. „Das ist ein Jubiläumsstab. Jeder Bruder, der 50 Jahre dem Orden angehörte, hat so einen Stab in der Klosterschreinerei in Warendorf geschnitzt bekommen.“

Diese – inzwischen nicht mehr praktizierte – Tradition stammt noch aus einer Zeit, in der die Lebenserwartung wesentlich kürzer war als heute. 50 Jahre im Orden – das musste man erst einmal schaffen. Ebenso wie etwa eine goldene Hochzeit waren solche Jubiläen in vergangenen Jahrhunderten etwas Besonderes und wurden entsprechend begangen. Den Jubiläumsstab in Paderborn schätzt Bruder Damian nicht unbedingt als den schönsten seiner Art ein. Doch das störe nicht, denn bei der Auswahl gehe es nicht unbedingt um Ästhetik.
„Wir arbeiten mit einem Drei-Kammer-System“, erklärt der Franziskaner. In der dritten Kammer landet alles, was tatsächlich entsorgt werden kann. In der zweiten, Vermittlungsort genannt, finden sich die Gegenstände wieder, die an einem anderen Ort noch gebraucht werden. Die Franziskaner streben an, dass hier ein reger Austausch herrscht. „Wenn wir ein Haus auflösen, geben wir alles im Idealfall sofort weiter“, so Bruder Damian.

Viele Kunstwerke oder liturgische Gegenstände gingen bereits in die Ukraine und nach Polen. Aktuell bekamen die Franziskanerinnen aus Salzkotten einen Kreuzweg ausgehändigt. Er wird in Malawi in Ostafrika, wo die Ordensschwestern ein neues Ausbildungshaus eingeweiht haben, weiter benutzt – und zwar in der Funktion, für die er einst gemacht wurde. Solche Lösungen seien der beste Weg, mit Kunst umzugehen.
In Paderborn, der ersten Kammer, wird alles das aufbewahrt, was den Brüdern besonders wichtig ist, was den Kern ihres spirituellen Lebens und ihres Selbstverständnisses ausmacht. Damian Bieger zieht an einer der zahlreichen Gitterwände im Depot. Einige Bilder hängen daran, ein Franziskaner mit runder Nickelbrille schaut gütig auf den Betrachter – nicht nur, weil das Gemälde ganz oben hängt. P. Joseph Kaufmann ist zu sehen, so steht es auf dem Kunstwerk geschrieben. Das sei ebenfalls eine franziskanische Tradition. „Markante Personen bekommen ein Porträt. Erinnerungspflege gehört zu unserer Kultur.“ Um wen es sich genau handelt, lasse sich anhand von Personenlisten im Archiv relativ schnell recherchieren.
An einer anderen Wand hängen Gemälde aus dem Nachlass eines Mitbruders. Er fertigte mit viel handwerklichem Können zwischen 1900 und 1920 Gemälde von allen Franziskanerklöstern an. Ist das nun hohe Kunst? Bruder Damian zuckt mit den Schultern, das sei gar nicht entscheidend. Viel wichtiger sei die Tatsache: Einige der gemalten Standorte gibt es nicht mehr. Die Gemälde seien somit Zeugen aus einer längst vergangenen Zeit und wichtig für das Gedächtnis des Ordens. So wie ein gemalter Stammbaum, der die direkte Linie vom heiligen Franz von Assisi über die heilige Elisabeth von Thüringen hin zu führenden Köpfen des Ordens zieht. Dieses Bild werde man niemals abgeben.

Bei seiner Arbeit kam dem Franziskaner die Akribie einiger seiner Mitbrüder zugute. „95 Prozent der Gegenstände waren professionell inventarisiert.“ Gemeinsam mit Kunsthistorikern habe man Kriterien erarbeitet, um Gegenstände bewerten zu können. Wichtig sei, dass das entsprechende Stück etwas Markantes über die Identität des Ordens aussage. Der Erhaltungszustand und das Alter seien ebenfalls wichtige Kriterien – ebenso wie die Häufigkeit. „Wir brauchen nicht die 20. unbefleckte Empfängnis oder den 30. Antonius von Padua“, bringt es Bruder Damian auf den Punkt. Das klingt zunächst hart, doch auch das Depot in Paderborn hat seine räumlichen Grenzen.
Reich werden die Franziskaner durch ihre Kunstgegenstände übrigens nicht, sie verschenken alles. „Vieles wurde uns ja auch geschenkt.“
Und dann gibt es noch diese Fundstücke, die den Franziskaner zum Schmunzeln bringen. Eine Nofretete aus Gips zum Beispiel, die sich auf einem Dachboden versteckt hatte. „Die war weder schön noch wertvoll.“ Sie war vielmehr Dutzendware, die an Touristen verkauft wurde. Auch Franziskaner reisen und bringen ein Souvenir mit. Für Gänsehaut sorgt dagegen ein unscheinbarer Kasten, eine Art kleiner Koffer. Die Verschlüsse sehen alt aus, der Tragegriff ist abgewetzt. Diese Kiste brachte ein Bruder aus der Kriegsgefangenschaft mit.

Wir ordnen unser Erbe, das ist wie in einer Familie“, findet Bruder Damian. Wenn die Eltern oder Großeltern sterben, hinterlassen sie häufig ein Haus voller Erinnerungen und Gegenstände, ein „Durcheinander von Wertvollem und weniger Wertvollem“. Man suche – ebenso wie in einer Familie – Lösungen, mit denen alle ihren Frieden schließen können.
Nur wenige Schritte vom Depot entfernt befindet sich der zweite Teil des Langzeitgedächtnisses – das Archiv für Bücher, Zeitschriften und Papiere. Es ist das Reich von Bruder Hans-Ulrich Kordwittenborg. Im blauen Kittel empfängt er Besucherinnen und Besucher, die aus ganz Deutschland anreisen. Heute ist ein Herr aus Bamberg da, der sich eifrig Notizen macht. Ahnenforscher seien das häufig, aber auch Menschen, die an der Geschichte ihrer Heimat oder des Ordens interessiert sind.
„Wir Franziskaner sind auch immer ein Teil der Lokalgeschichte“, ist Bruder Hans-Ulrich überzeugt. Das beweist eines der ältesten Bücher, das im Archiv ausliegt. „Liber Benefactorum“ steht da auf dem massiven Holzeinband. Darin ist noch heute gut lesbar, was Brüder im 18. Jahrhundert auf Latein eingetragen haben. Es geht um Gebete oder Sterbemessen für Menschen, die in der Region gelebt haben. Als Bettelorden nahmen die Brüder kein Geld für ihre seelsorgerische Arbeit, aber Naturalien. Fein säuberlich, mit eleganter Handschrift, ist hier akribisch notiert, welche Spende es gab, wann für welchen Mitbürger gebetet wurde.

Wie in einer klassischen Bibliothek gibt es hier schwere Regale, die durch ein großes schwarzes Rad bewegt werden. Viele Unterlagen sind noch in grauen Kartons gelagert. Offen zu sehen sind vor allem Chroniken und Verzeichnisse von Brüdern. Dazwischen gibt es Kartons mit Magnetbändern und klassischen Audiokassetten. Sie stammen aus dem Nachlass eines Bruders, der so Anleitungen für Exerzitien aufzeichnete. „Sie stammen aus den 1970er-Jahren“, vermutet Bruder Hans-Ulrich. Ist denn darauf noch etwas zu hören? Können die Franziskaner die Bänder überhaupt abspielen? „Das müsste man digitalisieren“, sagt der Archivar. Doch das koste Zeit, „das Archiv ist ein Ein-Mann-Betrieb“. Und ja: Je älter die Bänder werden, desto größer ist die Gefahr, dass ihre Informationen für immer verschwinden. Dessen sind sich die Franziskaner bewusst.
Was das Digitalisieren angeht, ist man bei dem gedruckten Erbe bereits weiter. Es gibt ein Archiv im Internet, das mit einer Datenbank gekoppelt ist. Onlinerecherche ist möglich. Wer lieber persönlich erscheinen will, muss mit Bruder Hans-Ulrich im Vorfeld einen Termin ausmachen. „Am liebsten ist es mir, wenn man konkrete Fragen stellt. Dann kann ich gezielt suchen.“ Wenig erfolgversprechend seien dagegen Anfragen wie: „In der Kirche xy hat damals eine Marienfigur gestanden. Wissen Sie, wo die jetzt ist?“
Der Archivar blättert inzwischen in einem Fotoalbum. Die Seiten sind dunkelbraun, die Rahmen der Fotos in Schwarz und Weiß gezackt. Es macht dem Franziskaner sichtlich Spaß, die Bilder aus der Vergangenheit zu betrachten. Eine Hochzeit, ein Mädchen hält ihre Kommunionkerze stolz in die Höhe, drei Männer stehen um einen – aus heutiger Sicht – uralten VW-Käfer herum. Schön, aber ist das Fotoalbum es wert, ins Archiv zu kommen? „Solche Alben hat jeder zu Hause. Keines der Fotos ist datiert oder beschriftet.“ Dieses hat schlechte Karten. Es fehlt einfach der Bezug zum Orden. Anders wäre es, wenn Franziskaner oder Klöster zu sehen wären.

Beim Sortieren lässt sich der Archivar von zwei Fragen leiten: „Womit kann ich jemandem eine Freude machen?“ und „Was könnte einmal nachgefragt werden?“ Geschichte sei eben mehr als die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Es gehe auch um die Brüder, die in Zukunft hier leben. Sie sollen teilhaben an der Historie. So hat es die deutsche Ordensleitung entschieden.
Ein großes Thema in Nachlässen sind Kondolenzschreiben. Auch hier unterscheidet der Experte. Interessant seien die Texte, in denen nicht nur Floskeln und Standardsprüche notiert sind. Wird ein Verstorbener dagegen beschrieben, aufgezeigt, was seinen Charakter ausmachte oder was er gut konnte – dann wird es interessant. Anderes Beispiel: Ein verstorbener Mitbruder hat zahlreiche Gedichte hinterlassen. Nur ein Hobby? Bruder Hans-Ulrich ist etwas anderes wichtig. „Der Bruder hat so sein Glaubensleben reflektiert. Das beeindruckt mich zutiefst. Ob das jetzt hohe Dichtkunst ist oder nicht …“ Der Franziskaner schüttelt den Kopf. Darauf komme es ihm nicht an.
Bruder Hans-Ulrich ist sich bewusst, dass es hier um ganz persönliche Dinge geht. „Diskretion ist sehr wichtig“, betont er. Deshalb landen Unterlagen oder Schreiben von Behörden nicht einfach in der blauen Papiertonne. Sie werden von einem Unternehmen professionell entsorgt, auch einen Aktenvernichter gibt es im Kloster.
Zum Schluss werden die beiden Franziskaner dann sehr ernst. Denn bei ihrer Arbeit erfahren sie hautnah: „Wir werden weniger.“ Auch die Zahl der Klöster wird kleiner. Das schmerze, wurde aber so vom Orden beschlossen. Umso wichtiger sei es, ein solches Langzeitgedächtnis zu schaffen. Und zu tun gibt es genug.
Hintergrund
Die Planung für den Umbau der Klerikatskapelle begann im Frühjahr 2022. Die Arbeiten dauerten eineinhalb Jahre. Über 100 Gemälde wurden für diese Zeit bei einer Spedition ausgelagert. Die Wahl auf Paderborn fiel aus rein pragmatischen Gründen – die Räumlichkeiten waren schlicht am besten geeignet. „Der Ort ist auf Dauer ausgelegt, weil Lagerung und Betrieb möglich bleiben, auch wenn das Kloster einmal aufgegeben werden müsste“, betont Bruder Damian Bieger. Das Depot bedeute keineswegs, dass der Orden immer in der Stadt bleiben werde. In Paderborn lagert also das Erbe der ehemals vier Franziskanerprovinzen Bavaria, Colonia, Thuringia und Saxonia. www.bibliothek.franziskaner.de