Die Frage nach einer westfälischen Identität
Dass es Westfalen seit 1 250 Jahren gibt, feiert der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in diesem Jahr mit einer großen Sonderausstellung in der Kaiserpfalz in Paderborn. Die Ausstellung zeigt: Westfalens Geschichte ist wie eine Wundertüte.
Westfalen ist flächenmäßig etwa sechsmal so groß wie Mallorca und knapp halb so groß wie die Niederlande oder Dänemark. Mit rund 8,4 Millionen Einwohnern stünde Westfalen als eigenes Bundesland hinter Bayern, Baden-Württemberg und dem Rheinland an vierter Stelle. Das heißt, nahezu jeder zehnte Bundesbürger lebt in Westfalen. Mit Blick auf die 1 250-jährige Geschichte stellt sich zwangsläufig die Frage nach einer eigenen westfälischen Identität. Gibt es sie überhaupt? Und wenn ja, wie ist sie geprägt und wie hat sie sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt? Einen Einblick liefert die Sonderausstellung „775 – Die Ausstellung“ in der Paderborner Kaiserpfalz.
„Wir wollen mit dem Jubiläum einen deutlichen Akzent zur Reflexion über Geschichte und Gegenwart der Region setzen. Das Interesse ist groß: Noch nie hatten wir so viele Förderanträge für Jubiläumsprojekte aus ganz Westfalen“, sagt der Direktor des LWL, Dr. Georg Lunemann, zum Jubiläum. Es solle in diesem Jubiläumsjahr „auch um die Menschen und die Eigenschaften gehen, die ihnen zugeschrieben werden“. Das Wissen über die gemeinsame Vergangenheit und die gewachsenen Strukturen in der Region solle dazu beitragen, aktuelle Fragen nach Identität, Heimat und Zukunft zu diskutieren. Denn, so Lunemann: „Westfalens Geschichte ist eine Wundertüte, und aus der Wundertüte gucken oben die Impulse für unsere Gegenwart und Zukunft raus.“
Der Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte, Prof. Dr. Malte Thießen, stellt die Vielseitigkeit Westfalens in den Mittelpunkt: „Wenn ein Hamburger ‚Import-Westfale‘ wie ich die Geschichte betrachtet, ist die Vielfalt Westfalens wirklich außergewöhnlich.“ Die Chancen und Schwierigkeiten moderner Gesellschaften seien nirgendwo so gut sichtbar wie hier. Der Historiker macht seine These an Beispielen fest. So spiele das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt in Westfalen seit dem 18. Jahrhundert eine Rolle, als Holz ein wichtiger Rohstoff wurde. Noch deutlicher wurde das Spannungsfeld laut Thießen während der Industrialisierung mit ihrem „unbändigen Fortschrittsoptimismus“, aber auch mit ihren Zukunftsängsten. Der Strukturwandel in Westfalen habe schon früh auch positive Lerneffekte gehabt.
Ein weiteres Spannungsfeld sei die Vielfalt der Regionen und damit der Gegensatz von Stadt und Land. Was heute der Streit um Glasfasertrassen und Mobilfunknetze sei, war im 19. Jahrhundert das Ringen um den Eisenbahn-Anschluss für den eigenen Ort – der Kampf um Infrastruktur und „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in der Stadt und auf dem Land. Thießen: „Die vielseitige Landschaft galt immer als Mahnung, dass eine Gesellschaft fairer funktioniert, wenn man für ‚Flächengerechtigkeit‘ sorgt.“
Die Frage nach einer „westfälischen Identität“ wurde im 20. Jahrhundert vor allem mit Pragmatismus beantwortet. Das würde man in Westfalen vielleicht nicht vermuten, so Thießen weiter. „Doch tatsächlich können wir hier eine früh gelebte Diversität beobachten.“ Dass die deutschlandweit erste Schwulendemo durch Münster ging und eines der ersten deutschen Frauenhäuser in Warendorf stand, seien keine Zufälle gewesen, sondern die „beeindruckende Vielfalt neben der beeindruckenden Tradition“.
Einzigartige Handschrift
Diese beeindruckende Vielfalt zeigt sich auf rund tausend Quadratmetern der Ausstellung. Neben archäologischen Funden aus dem Leben in der Stadt und auf der Burg, aber auch wertvollen Schätzen aus Klöstern und Kirchen ist mit der „Geburtsurkunde Westfalens“ aus dem 9. Jahrhundert ein ganz besonderes Ausstellungsstück zu sehen. In ihr wird der Begriff Westfalen erstmals erwähnt. Der Text der sogenannten Reichsannalen wurde zwischen 787 und 793 niedergeschrieben. Die Handschrift ist eine der beiden ältesten noch existierenden Abschriften des heute verlorenen Originals.
„Der Eintrag der Annalen zum Jahr 775 ist absolut bedeutend für die Geschichte Westfalens, denn hier werden die Menschen aus Westfalen, die ‚westfalaos‘, zum ersten Mal erwähnt. Welches Gebiet und vor allem wer genau mit dem Begriff um diese Zeit gemeint war, wollen wir in der Ausstellung beleuchten“, sagt Museumsleiter und Historiker Dr. Martin Kroker. Der Eintrag der Annalen sei ein halbes Jahrhundert älter als die Erwähnung der Westfalen im Mainzer Geiselverzeichnis, welches um 805 entstand. Auch das Verzeichnis ist in der Ausstellung zu sehen.
Doch zunächst sei es nicht so einfach gewesen, die Reichsannalen anlässlich des Jubiläums nach Paderborn zu holen, berichtet Kuratorin Anne Karl: „Wir mussten einige Zeit verhandeln, um das empfindliche Pergament immerhin für vier Monate zeigen zu können – aber es hat geklappt.“ Die Handschrift liegt sonst in der „Bibliothèque nationale de France“ in Paris. Vor der Ausstellung in Paderborn wurde das Pergament dort professionell gereinigt. Ein besonderer Kunsttransport hat das empfindliche Stück Geschichte in einer klimatisierten Transportbox aus Paris nach Paderborn gebracht.
Ein weiterer Höhepunkt der Ausstellung ist das Kunstwerk „Anbetung der Hirten“ von Peter Paul Rubens. Dieser außerordentliche Künstler hat die Malerei zur Meisterschaft geführt. In Westfalen geboren, hat er vor allem in Antwerpen gearbeitet. Das Ölgemälde ist üblicherweise im historischen Museum in Österreich, dem Stift St. Paul in Kärnten, zu sehen.
Berühmter Sohn Westfalens
Das Bild für diese Ausstellung nach Paderborn zu geben, fiel dem Direktor Dr. Pater Gerfried Sitar zunächst nicht leicht. „Es gibt Objekte, die man weniger gerne hergibt, weil sie einfach einzigartig sind oder weil die Besuchenden sie in unserem Museum erwarten. Aber natürlich freue ich mich, wenn das Stift St. Paul auch international vertreten ist. Letztlich bedeutet der Leihverkehr auch immer einen Austausch auf wissenschaftlicher Ebene mit Museen weltweit. Somit ist man wichtig, und es ist ein schönes Gefühl, ein Museum zu haben, das nicht für sich selbst lebt, sondern ausstrahlt. Unsere Sammlung gehört schließlich zum Allgemeingut. Sie ist nicht unser Besitz, sondern sie gehört der ganzen Welt“, sagt der Museumsdirektor.
Pei-Yu Chang und Malte van de Water haben im Inneren der Pfalz die Ausstellung mit Collagen gestaltet, die die Besucher nicht nur in Themenräume, sondern in ein eigens geschaffenes Bild hineinwandern lassen. „Die künstlerische Gestaltung nimmt jeweils den Geist der Zeit in den Themenräumen auf und unterstützt eine sich ständig wandelnde Atmosphäre – genauso wandelbar und wechselhaft wie die Geschichte Westfalens“, erläutert Martin Kroker den Hintergrund.
Die Besucher können an Mitmachstationen selbst aktiv werden und dank eines Begleitprogramms Westfalens Vielfalt erleben. Neben der Vortragsreihe „Westfälische Welten“ erwarten besonders Familien mit Kindern kreative Workshops, Themenführungen, Sonderveranstaltungen und Ferienprogramme. Laut Museumsdirektor Martin Kroker sind mit der Ausstellung und dem Begleitprogramm alle Westfalen aktiv zum Mitfeiern eingeladen: „Es ist vor allem die Geschichte ihrer Heimat, die hier im Mittelpunkt steht.“
„Neue Perspektiven auf das Westfälische entwirft auch der Begleitband zur Ausstellung. Hier erwarten Interessierte neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur westfälischen Geschichte, zu archäologischen Funden, mittelalterlichen Handschriften, Gemälden und Grafiken“, erklärt LWL-Kulturdezernentin Rüschoff-Parzinger.
Hintergrund
Im LWL-Museum in der Kaiserpfalz in Paderborn wandelt das Publikum an einem Stützpunkt Karls des Großen in den Sachsenkriegen durch Westfalens Geschichte. Auf rund tausend Quadratmetern wird in der Sonderausstellung vom 16. Mai 2025 bis zum 1. März 2026 die Entwicklung der Region seit der ersten Erwähnung im Jahr 775 anhand von kunsthistorischen, historischen und archäologischen Exponaten erlebbar. Das Kulturprogramm zum Jubiläumsjahr „1 250 Jahre Westfalen“ steht unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und spannt den Bogen bis in die Gegenwart: Über 40 Projekte – aus Kunst, Geschichte, Literatur, Musik, Kabarett, Kulinarik und mehr – verdeutlichen die Vielfalt Westfalens.