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17.03.2025
Blick auf die Abtei Liesborn heute: Nach mehreren Bränden ist nicht mehr bekannt, wie das mittelalterliche Gebäude einst ausgesehen hat.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Die ältesten Zeugnisse Westfalens

Die Abtei Liesborn hat eine bewegte Geschichte – auch als Zankapfel zwischen den Bistümern Münster und Paderborn. Heute fasziniert das Museum durch die Vielzahl an Exponaten.

// Text: Wolfgang Maas // Fotos: Patrick Kleibold
Wadersloh

GrundtextEin bisschen großspurig wirkt der Titel schon. „Die Erfindung Westfalens“ heißt die Ausstellung, die am 27. April im Museum Abtei Liesborn eröffnet wird. „Das ist ein bisschen provokativ gemeint“, gibt der Leiter des Museums, PD Dr. Sebastian ­Steinbach, zu. Doch unstreitig ist: Hier, an der Grenze zwischen den ­Bistümern Münster und Paderborn, sind über 1 000 Jahre Geschichte erlebbar. Fast schon pünktlich zum ­westfälischen Jubiläum ist die „­Historia ­Westphaliae“ von ­Bernhard Witte, die lange als ­verschollen galt, wieder aufgetaucht. Beim Eröffnungskolloquium wird Dr. Steinbach in das Werk einführen.Und auch ein anderes Buch sorgt für Aufsehen – das Liesborner Evangeliar. Diese 1 000 Jahre alte Handschrift ist eine der wenigen vollständig erhaltenen Exemplare, die tatsächlich im Kloster genutzt wurden. Also auf geht es ins Mittelalter, durch ein beeindruckendes Treppenhaus, vorbei an verschiedenen Kunstwerken.

Die Spannung steigt. Durch einen dunkel gehaltenen Gang nähern sich Besucherinnen und Besucher dem Evangeliar, das der Museumsleiter als „Buch für die Ewigkeit“ bezeichnet. Doch nicht so schnell – auch der Durchgang hat einiges zu bieten. Mitkuratorin Yvonne Püttmann deutet auf eine der Tafeln. Rechts gibt es Erläuterungen zu Textausschnitten. „Fassen sie die ruhig einmal an“, sagt die Projektmitarbeiterin und deutet auf die linke Tafel. Hier kann man die Schrift nicht nur sehen, sondern auch fühlen. Die Tafeln sind so gestaltet, dass sie auch für seheingeschränkte Menschen erlebbar werden.

Dr. Sebastian Steinbach und die Theologin Yvonne Püttmann vor dem Evangeliar.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Dann geht es in den mit drei Architekturpreisen ausgezeichneten Raum, in dem das Evangeliar ausgestellt ist. An den meterhohen Wänden wurden schwarze Metalltafeln angebracht. Zu sehen sind – auch ganz oben – Auszüge aus dem mittelalterlichen Buch. Im Hintergrund läuft geistliche Musik, dezent vorgetragen von Frauenstimmen. Im Zentrum liegt das Werk.

Doch dann leuchtet etwas auf dem Boden auf. Eine runde Struktur entsteht, mittelalterliche Schrift in Schwarz und Rot wird sichtbar. „Das ist ein Pater-Noster-­Diagramm“, erklärt Yvonne Püttmann. Dahinter verbirgt sich ein starkes Stück Theologie. Es gehe auf den heiligen Augustinus zurück. Das Diagramm bringe die sieben Vaterunser-­Bitten mit den sieben Tugenden der Bergpredigt und den Gaben des Heiligen Geistes zusammen. Diese Praxis „half den Mönchen als Meditation“, so Püttmann. Ziel der Übung war der Weg zu Gott, der im Mittelpunkt auftaucht. Das Diagramm selbst ist im Evangeliar abgebildet, auch wenn das fast zehn Kilogramm schwere Werk wohl nicht zum Meditieren geeignet war. „Man müsste das Buch dabei auch mit einer Hand drehen.“ Das war praktisch nicht möglich.

Wesentlich einfacher zu verstehen sind die Worte, die am äußeren Rand des Diagramms auftauchen. Völlerei, Zorn, Neid – das kennt man. Die sieben Todsünden hat das Museumsteam ergänzt, im Buch erscheinen sie nicht an dieser Stelle. Und dann taucht ein kleiner gezeichneter Teufel auf. Die Animation wirft sich vor das Wort „Zorn“ und trommelt wütend mit den Fäusten. Bei aller Wut – das Kerlchen wirkt eher niedlich und regt zum Schmunzeln an. „Das ist der Liebling der Kinder. Sie laufen hinter ihm her“, hat Yvonne Püttmann bei Führungen für Schulklassen beobachtet. 180 gab es allein im vergangenen Jahr. Berührungsängste gebe es nicht, allerdings ziere sich so mancher Erwachsener, auf das Pater-Noster-­Diagramm zu treten.

Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Dann sind es nur wenige Schritte zum Evangeliar. Die feine Schrift ist noch immer – nach all den Jahrhunderten – problemlos zu lesen. „Alle vorherigen Besitzer sind sehr pfleglich damit umgegangen“, ist Museumsleiter Dr. Sebastian Steinbach überzeugt. Das Werk verbindet zudem die beiden Traditionen der Abtei Liesborn. Denn die Äbtissin Berthildis stiftete den Codex, der für die Frühzeit des Standortes steht. Der Buchdeckel ist 500 Jahre neuer und steht für die Zeit als Benediktinerkloster, die bis zur Aufhebung 1803 reicht.

Diese Zweiteilung ist auch auf der Rückseite zu sehen. In der Mitte ist die Glasscheibe, die den Blick auf den Titel des Evangeliars freigibt. Daneben hängt eine Figur mit dem Titel „Antlitz Christi“, die um das Jahr 1030 entstanden ist. Auf der anderen Seite befindet sich – ebenfalls als Referenzobjekt – ein Kruzifixus aus dem Jahr 1525.Die Jahreszahlen machen fast schon automatisch nachdenklich, wenn nicht gar demütig. Schon Erwachsene haben Schwierigkeiten, sich diese Zeitspannen vorzustellen. Wie lang musste einem Menschen des Mittelalters, der vielleicht 35 Jahre alt werden konnte, 500 Jahre vorkommen? Und wie vermittelt man das Kindern? Yvonne Püttmann nutzt ein Band mit insgesamt 1 000 Perlen. Das ist mehrere Meter lang. Mädchen und Jungen können dann – ganz praktisch – begreifen, was 100 Jahre sind: nämlich 100 Perlen, die man anfassen kann.

.Die Altartafel stammt vom „Meister von Liesborn“, dessen richtiger Name nicht bekannt ist.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Blättern darf man übrigens auch in der Handschrift – zumindest virtuell. Die digitale Kloster-­Bibliothek wurde aufgebaut, um diesem Wunsch nachzukommen. Im stilechten Ambiente, umrahmt von Wänden mit aufgedruckten Buchdeckeln, steht ein brauner Tisch. Auf dem Bildschirm, der darin eingebaut ist, erscheint es tatsächlich – das Liesborner Evangeliar. Die Seiten sind erkennbar, man kann Lesezeichen setzen und wie auf einem Smart­phone durch Wischen über den Bildschirm blättern. Im Laufe der nächsten Jahre sollen so alle Handschriften, die die Abtei einmal besessen hat, erscheinen. Predigten von Bernhard von Clairvaux sowie eine Schrift von Isidor von Sevilla gehören dazu.

Ein Stockwerk höher, auf dem Dachboden, geht es weiter mit dem Staunen. Dort ist auf rund 750 Qua­dratmetern „die größte museale Ausstellung von Kreuzdarstellungen wenigstens Europas“ zu sehen. Rund 250 Exponate aus der Frühzeit bis in die Jetztzeit sind zu bestaunen. Und das sei, so der Museumsleiter, nur ein kleiner Teil der Sammlung. „Wir verleihen auch Stücke, weil wir nahezu aus jeder Epoche etwas haben“, sagt Dr. Steinbach nicht ohne Stolz. Ferner sei man derzeit intensiv dabei, Kontakte zu Universitäten zu knüpfen beziehungsweise zu intensivieren. Denn die Ausstellungsstücke sollen auch der Forschung zur Verfügung stehen.

Auch moderne Kreuzdarstellungen gehören zur Ausstellung.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

Unter dem Dach kann man gut die Entwicklung der Kreuzdarstellungen erkennen. Jesus als plastische Figur kam in der Romanik auf; der leidende Heiland, der sich bis heute als gängige Darstellung durchgesetzt hat, stamme aus der Gothik. Und dann gibt es auch noch ganz moderne Werke, in denen Jesus etwa aus Zahnrädern zu bestehen scheint. Fast schon beklemmend wirken Darstellungen, die sich mit den Weltkriegen beschäftigen. Die Variationen machen die Ausstellung so imposant.

Und auch das heutige Kloster an sich ist einen Ausflug wert. Wie mag es hier im 9. Jahrhundert ausgesehen haben? Landwirtschaftlich geprägt war die Gegend auch damals, was eine Klostergründung durch adelige Frauen erleichterte. Vier Höfe unterstützten das damalige Stift. Wichtig war auch, dass es hier Wasser gab, einen Zugang zum Hellweg sowie eine Trutzburg als Schutz vor Feinden. Warum die Benediktiner das Anwesen im Jahr 1130 übernahmen, darüber lässt sich heute nur noch spekulieren. Offiziell wurde den Frauen „Disziplinlosigkeit“ vorgeworfen. Was heißt das? Waren sie vielleicht zu sehr kaisertreu und damit dem Bischof von Münster ein Dorn im Auge? Aber das macht eben auch Geschichte aus – sie bietet Platz für die eigene Fantasie.

Hintergrund

Das Museum Abtei Liesborn des Kreises Warendorf, Abteiring 8 in Wadersloh, hat dienstags bis sonntags von 10.00 bis 18.00 Uhr geöffnet. An Sonn- und Feiertagen bleibt es geschlossen. Das Museum ist barrierefrei, der Eintritt an allen Tagen frei. Die Ausstellungsfläche umfasst rund 3 500 Quadratmeter. Seit dem Umbau, der 2023 abgeschlossen worden war, habe sich die Besucherzahl nach eigenen Angaben von 20 000 auf 33 000 erhöht. Neben den Ausstellungen – am 27. April startet „Die Erfindung Westfalens“ – gibt es auch regelmäßig Konzerte mit Musikerinnen und Musikern aus verschiedenen Bereichen wie die Countryband Free Bears am 19. Juli. Mehr dazu gibt es im Internet unter: www.museum-abtei-­liesborn.de

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