6 Min.
10.10.2025
Albi Roebke, evangelischer Pfarrer und Notfallseelsorger, am 20. August 2025 in Bonn.
Foto / Quelle: Harald Oppitz/KNA

"Der Tod macht das Leben kostbar"

Was sagen, wenn man einen Menschen besucht, der gerade seinen Ehepartner durch einen Herzinfarkt verloren hat? „Authentisch bleiben“, rät Notfallseelsorger Albi Roebke. Was genau er damit meint, erklärt er im Interview.

Bonn

Wer mit Albi Roebke über den Tod spricht, lernt das Leben kennen – in all seiner Verletzlichkeit, aber auch in all seiner Kraft. Als Notfallseelsorger in Bonn und Umgebung tritt der evangelische Pfarrer dann auf den Plan, wenn Menschen etwas Schreckliches widerfahren ist: der Tod eines Kindes bei einem Verkehrsunfall oder die Ermordung eines Elternteils. Auch bei der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands im Sommer 2021 war Roebke im Einsatz.

Zusammen mit der Journalistin Lisa Harmann hat der 58-Jährige ein ebenso persönliches wie berührendes Buch über seine Erfahrungen geschrieben: „Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war“. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erzählt Roebke, wie auch kleine Gesten Großes bewirken können – und wie er selbst nach einem Schicksalsschlag auf das Leben blickt.

Herr Roebke, in Ihrem Buch erzählen Sie unter anderem die Geschichte von Chrissy, die mit 15 von ihrem Vater erfährt, dass ihre Mutter von einem auf den anderen Tag verschwunden ist. Jahre später stellt sich dann heraus, dass der Vater die Mutter umgebracht hat.

Darf ich da direkt einhaken?

Nur zu.

Uns war wichtig, dass sämtliche Betroffenen, die in dem Buch vorkommen, in die Veröffentlichung eingewilligt haben. Und dass sie eine konkrete Botschaft haben.

Wie lautet die Botschaft im Fall von Chrissy?

Bei Mordfällen innerhalb der Familie kann es eine Ambivalenz geben. Für dein Umfeld oder die Öffentlichkeit bist du entweder das Kind eines Mörders oder das arme Opfer, das jetzt den Vater hassen muss. Menschen wie Chrissy müssen aber eine Spannung aushalten: dass der in der Vergangenheit als zugewandt empfundene Vater eben auch ein abscheuliches Verbrechen begangen und die Leiche der Mutter im Keller hinter einem Weinregal eingemauert hat. Ein anderes Beispiel ist Eva, die ihre sechsjährige Tochter durch ein Sexualverbrechen verloren hat.

Eine furchtbare Vorstellung.

Natürlich hat man nach einem solchen Ereignis Mühe, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aber Evas Beispiel zeigt: Man muss nicht in einem pathologischen Sinne traumatisiert sein, und man darf so etwas auch überleben. So unglaublich das klingt – aber zwei von drei Menschen haben nach derart tragischen Erlebnissen kein Psychotrauma.

Spurlos wird eine solche Erschütterung aber wohl an niemandem vorbeigehen.

Natürlich nicht. Wenn jemand etwas derart Heftiges erlebt, hat er traumatischen Stress. Man reagiert so, wie man sich nicht kennt. Das sagt mir aber überhaupt nicht, wo ich in sechs Monaten stehe.

Was passiert in der Zeit dazwischen?

Wenn ich einen Menschen verloren habe, bin ich in den ersten Wochen total traurig, aber ich trauere noch gar nicht um ihn.

Wie das?

Zum Trauern gehört die emotionale Akzeptanz der Tatsache, dass der Verstorbene wirklich nicht mehr wiederkommt. Zunächst denke ich immer noch, ich sei im falschen Film. Gleich klingelt es, und die Person steht wieder vor der Tür. Das ist völlig normal.

Und dann?

Ein wichtiger Einschnitt kommt nach ungefähr drei Monaten. Freunde, Verwandte halten es nicht mehr aus, dass es den Betreffenden nicht besser geht. Das Umfeld wendet sich dann häufig ab, und es kommt so ein Spruch wie: „Das ist doch krankhaft oder nicht normal.“

Nicht gerade hilfreich.

Erst nach ungefähr einem halben Jahr kann man erkennen: Gibt es Dinge, die mich in meinem Leben kontinuierlich belasten und die weiter schlecht bleiben? Das wäre dann ein Hinweis auf ein mögliches Psychotrauma, und erst dann bedarf es weiterer Hilfe.

Wo wir gerade dabei sind – was können Angehörige oder Freunde tun? Was sollten sie sagen, wenn jemand gerade sein Kind verloren hat?

Meine erster Ratschlag wäre: echt sein, authentisch bleiben. Und keine Angst: Wenn ich Empathie habe, kann ich auch das Falsche sagen. Eva beispielsweise hasste zwar die Floskel „viel Kraft“. Aber sie sagt auch, dass sie klar erkannt habe, ob jemand – unabhängig von dem Gesagten – mitfühlend auftrat. Ein Problem ist, dass wir die traditionellen Formeln für Trauer und Tod verloren haben.

„Herzliches Beileid“ ist aber vielleicht auch nicht besser.

Eine Stärke von solchen Floskeln war früher, dass jeder wusste, was er zu sagen hatte. Daraus ergaben sich dann allerdings andere Probleme. Man konnte nicht einschätzen: Wie ernst meint es derjenige, der das gesagt hat? Heute dagegen stehen viele Leute unter Stress, weil sie das Richtige sagen wollen.

Was könnte angesichts eines plötzlichen Todes das Richtige sein?

Ich persönlich halte als Phrase „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“ für das Beste. Weil das ehrlich ist. Am schlimmsten wird es, wenn die Menschen versuchen, etwas Originelles auszupacken. Das geht auf jeden Fall schief.

Andere wollen Trost spenden.

Die Betroffenen brauchen Begleitung, keinen Trost. Trösten kann man sich nur selbst. Das kann man niemand vorgeben. In den Arm zu nehmen, sendet dagegen eine andere Botschaft: Ich halte das mit dir aus, aber ich wische es nicht weg.

Laufen wir Gefahr, den Umgang mit Tod und Trauer zu verlernen?

Wir haben den Tod verdrängt. Das ist in Deutschland noch mal krasser als in anderen westlichen Industrienationen. Meiner Ansicht nach gehört das zu den Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs. Danach hatte man genug vom Tod. Gestorben wird bitte im Hospiz, und das Hospiz ist bitte nicht in der Innenstadt. Zugleich sinkt die Bedeutung von Kirche, die eigentlich viel zu dem Thema zu sagen hat.

Stoßen Sie auf Vorbehalte, wenn Sie als Notfallseelsorger und evangelischer Pfarrer zu einem Unfallort kommen oder auf Hinterbliebene zu Hause zugehen?

Die Leute haben ein Bild davon, was sich abspielt, wenn eine Katastrophe passiert. Da darf ein Pfarrer dabei sein. Genauso wie ein Bestatter. Ich glaube ohnehin, Kirche ist da besonders stark, wo wir Menschen begleiten. Mein Eindruck ist, dass wir in beiden Kirchen viel zu häufig darauf warten, dass die Menschen zu uns kommen.

Was machen Sie, wenn Betroffene Sie als Notfallseelsorger wegschicken?

Wenn ich weggeschickt werde, dann ist das durchaus ein gelungener Einsatz für mich.

Wieso?

Weil die Betroffenen etwas erlebt haben, was ihr Leben massiv durcheinandergebracht hat. Indem sie mich wegschicken, signalisieren sie, dass sie wieder Kontrolle übernehmen. Das ist ungeheuer wichtig nach solchen Ereignissen. Man muss sich das so vorstellen: Wenn meine Frau zu Hause plötzlich umfällt, rufe ich die 112. Dann kommen erstmal zwei Notfallsanitäter. Die holen einen Notarzt. Der erscheint plus Fahrer. Wiederbelebungsversuche scheitern. Bei ungeklärter Todesursache kommen dann zwei uniformierte Beamte. Die verständigen die Kriminalpolizei und die wiederum den Polizeibestatter.

Macht neun, zehn fremde Leute in der Wohnung, …

… in der ich kurz vorher mit meiner Frau noch einen Kaffee getrunken habe. Und dann steht auch noch der Notfallseelsorger in der Tür. Das ist der einzige, den ich wegschicken kann.

Sie ermutigen die Leserinnen und Leser Ihres Buches dazu, sich mit dem Thema Notfallseelsorge auseinanderzusetzen. Welchen Wunsch haben Sie darüber hinaus?

Dass viel mehr Menschen wissen, wie sie mit Betroffenen in traumatischen Stresssituationen umgehen. Es ist beispielsweise wichtig, dass Kinder, denen Schlimmes widerfahren ist, in die Schule gehen können – auch am Tag nach dem Ereignis. Weil das Normalität ist und Halt gibt. Und wenn das Kind in die Schule geht, braucht es keinen zusammenbrechenden Biolehrer – sondern den Lehrer, der ihm zur Not eine Fünf im Biotest zurückgibt, denn das ist Normalität.

Vor zehn Jahren haben Sie selbst Ihre Eltern und Ihren Bruder durch einen Verkehrsunfall verloren. Haben Sie sich da auch die Frage gestellt, die im Buch vorkommt: „Wo ist mein verdammter Gott?“

Das habe ich vorher auch schon hier und da mal gemacht. Und ich weiß, dass mein Chef die Frage aushält.

Ein Notfallseelsorger, der selbst zum Betroffenen wird – das ist doch eigentlich absurd.

Das Leben ist absurd, ich kann nur das Beste draus machen. Der Tod macht das Leben kostbar. Deshalb ist meine Freude am Leben seither eigentlich gewachsen.

KNA
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