Der „Architekt Gottes“
Das Vermächtnis von Antoni Gaudí ist die Sagrada Família in Barcelona. Am 10. Juni 2026 ist Gaudís 100. Todestag. Anlass für ein Jubiläumsprogramm.
Eine poetische Version liest sich so: Antoni Gaudí (1852-1926) war der „Architekt Gottes“ – und seine Sagrada Família, die riesige Sühnekirche in Barcelona, ist eine ewige Predigt in Stein. 1883 übernahm der aufstrebende Gaudí das junge Projekt, da sich sein Vorgänger mit den Gründern der „Geistlichen Vereinigung von Verehrern des heiligen Josef“ zerstritten hatte.
Obwohl Gaudí ein ums andere Mal auch zivile Bauvorhaben umsetzte, blieb die Sagrada Família das beherrschende Projekt bis zu seinem Lebensende – und das verlief tragisch. Er wurde von einer Straßenbahn erfasst. Da er keine Ausweispapiere bei sich trug und verwahrlost aussah, kam er in ein Armenspital, wo er dann seinen Verletzungen erlag. Das war am 10. Juni 1926. Seine Sagrada Família blieb unvollendet – und ist bis in die Gegenwart die vielleicht bekannteste Kirchenbaustelle der Welt geblieben.
Zu Ehren des 100. Todestages von Gaudí haben die Verantwortlichen der Sagrada Família bei einer Pressekonferenz in Barcelona ein buntes Jubiläumsprogramm angekündigt. Einen Vorgeschmack gibt am 30. November die Illumination des Barnabas-Turms, des einzigen Turms, der zu Lebzeiten Gaudís fertiggestellt wurde.
Am Sankt-Josefstag, dem 19. März, wird der Volkschor Orfeó Català in Erinnerung an die Grundsteinlegung ein Konzert im Hauptschiff der Sagrada Família geben; am selben Tag ist eine Messe für den heiligen Josef terminiert. Die Feierlichkeiten gipfeln um den Todestag am 10. Juni in der Einweihung des Jesus-Christus-Turms, dessen 172,50 Meter Höhe ihn zum höchsten Kirchturm der Welt machen werden. Ein weiteres Highlight ist die Illumination der Geburtsfassade.
Schmückende Beiwerke des Programms werden verschiedene Ausstellungen zur Geschichte und Bedeutung der Sagrada Família sein. Ein bislang nicht näher umrissenes Event wird mit dem vom 28. Juni bis 2. Juli anberaumten Weltkongress der Internationalen Architektenvereinigung in Verbindung stehen. 2026 steht Barcelona, nicht zuletzt wegen Gaudí, als Welthauptstadt der Architektur im Fokus. Obendrein, obgleich etwas abwegig, sind die Vorstellungen der Radsportteams der Tour de France, die am 4. Juli in Barcelona beginnen und der Weltöffentlichkeit über TV-Aufnahmen die neue Sagrada Familia näherbringen wird.
Gaudí galt als Vertreter des katalanischen Modernismus, einer europaweiten Strömung, die andernorts als Jugendstil oder Art Nouveau bekannt war. In Barcelona bürstete er Wohnhäuser wie die Casa Batlló gegen den architektonischen Strich und sah sich mit Skepsis und kritischen Stimmen konfrontiert. Die Casa Milà, deren geschwungene Fassade an eine Abfolge aus Augenlöchern erinnern mochte, bekam den verächtlichen Beinamen „Pedrera“ – Steinbruch.
Hinter den Profanbauten steckten wohlhabende Auftraggeber oder Gönner. Dagegen war für Gaudí bei der Finanzierung der Sühnekirche klar: „Das Volk baut die Kirche Sagrada Família.“ Sein Optimismus sollte sich erfüllen. Die Einnahmen durch Besuchereintritte und Zuwendungen von Sponsoren ernähren bis heute Nachfolge-Architekten, Künstler, Handwerker.
Der katalanische Dichter Joan Maragall (1860-1911), der die Sagrada Família in ihrer Frühbauphase erlebte, würdigte sie in seiner „Neuen Ode an Barcelona“. Es blühe „wie eine Riesenblume ein Tempel, der sich darüber wundert, dass er hier zur Welt kam.“ Mitten im Elend wachse und gedeihe er und, so Maragall regelrecht prophetisch, „wartet auf Gläubige, die kommen werden“.
Ab 1914 widmete sich Gaudí ausschließlich der Sagrada Família. Bei der Ausgestaltung setzte er mehr auf kleine Entwurfsmodelle als auf Pläne. Auf dem Baugelände tüftelte er in seiner eigenen Werkstatt an Strukturen, Formen, Details. Quellen seiner Inspiration waren die Natur, das Licht, die Bibel. Nach seinem dramatischen Ende gab man ihm die Letzte Ruhe in seinem Lebenswerk Sagrada Família: in der Kapelle Virgen del Carmen. Über der schnörkellosen Grabplatte wacht eine Marienskulptur mit dem Kind.