„Bauregeln für Zukunftsmut“
Predigt von Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz bei der Eucharistiefeier zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz.
„Der italienische Stararchitekt Renzo Piano war es, der um die Jahrtausendwende die monumentale Basilika über dem Grab von Pater Pio in den Hügeln von S. Giovanni Rotondo in Apulien errichtete. Dieser Bau hat viel Bewunderung hervorgerufen: Großzügigkeit, Weite, ein muschelförmiger Zentralbau mit weit ausladendem Dach, eine gezielte Lichtführung. Ein Meisterwerk moderner Sakralarchitektur. Und zugleich ist dieser Bau ein Stein des Anstoßes für manchen: zu kühl, zu rational, eine Architektur, die zur Bewunderung einlädt, aber nicht zur inneren Einkehr. Das passe nicht zu P. Pio, so die Überzeugung
All das überrascht nicht. Räume – insbesondere Sakralräume – bauen an unsrer Innerlichkeit. Und umgekehrt: Unsere Innerlichkeit prägt auch die Art und Weise, wie wir bauen. So haben Menschen in jeder Epoche und jedem Kulturraum immer neue und großartige Zeugnisse ihrer Innerlichkeit erbaut. Martin Heidegger konnte sagen, dass das Bauen sogar eine Wesensbestimmung des Menschen ist. Damit ist nicht zuerst die Fähigkeit zur technischen Konstruktion gemeint, sondern die Weise, wie wir Menschen auf der Erde wohnen wollen. Wovon lassen wir uns dabei leiten? „Bauen“ bedeutet in dieser Tiefenschicht mehr als Ingenieurskunst. Bauen bedeutet dann: dem Dasein Gestalt geben. Bauen meint, Lebensraum und immer auch Zukunft zu gestalten. Welche Vision haben wir von diesem „Wohnen“ auf der Erde? Und wenn es um das Haus Gottes geht: Welche Vision haben wir vom Wohnen in diesem Haus?
Eine Vision des Haus Gottes
Das Volk Israel hatte eine Vision davon, wie es das Haus Gottes nach der Katastrophe der Zerstörung des Tempels Salomo und des Exils wieder aufbauen wollte. Davon haben wir in der Lesung gehört: Sie konnten den Bau vollenden (Esra 6,14) und feierten nach der Rückkehr aus dem Exil voll Freude die Einweihung des Gotteshauses (Esra 6,16). Und auch hier geht es um mehr als um die Fertigstellung eines Gebäudes. Die Erfahrung des Exils rüttelte am Vertrauen des Volkes zur Treue Gottes. Wie stark waren die Selbstzweifel. Man fragte sich: Geht Gott wirklich mit uns durch alle Höhen und Tiefen der Geschichte? Hat Gott uns im Stich gelassen, vergessen?
Der Wiederaufbau des Tempels wird zum Sinnbild eines wiedergewonnenen Vertrauens des Volkes Israels auf die Treue Gottes. Die Rahmenbedingungen waren andere geworden. Gut. Aber entscheidender als die äußeren Rahmenbedingungen war der innere Wille, trotz aller Schwierigkeiten und Hürden und Widerstände dennoch weiterbauen zu wollen! Es heißt ausdrücklich: Dank der Wirksamkeit der Propheten Hagái und Sachárjas. (Esra 6,14) Sie haben Mut gemacht auf Zukunft hin. Sie haben Mut gemacht, neu auf Gott zu bauen. Sie haben eine Vision entwickelt, wie der Tempel wieder Inbegriff für die Treue Gottes zu seinem Volk werden kann. Das Volk Gottes braucht zu allen Zeiten solche prophetischen Stimmen.
Und es gibt sie – mitten unter uns! Und zwar überall im Gottesvolk, nicht nur im Amt oder in den Mandatsträgern organisierter Strukturen. Deshalb braucht es eine synodale Kultur, die der wirklichen Vielfalt dieses Gottesvolkes entspricht, um diese prophetischen Stimmen wahrnehmen zu können und zu Wort kommen zu lassen. Wenn wir die Frage nach unserer synodalen Kultur allein darauf fokussieren, wer wie mitentscheiden darf, laufen wir Gefahr, all das aus dem Fokus zu verlieren, was entscheidend zum Gelingen des Baus beiträgt. Deshalb braucht es ein Hören auf diejenigen Stimmen, die – um im Bild zu bleiben – über die Fragen eines Bauplanes, der Strukturen, der Statik, des Baumaterials hinaus Freude daran haben, am Haus Gottes zu bauen; diejenigen Stimmen, die eine Vision davon haben, wie das Vertrauen in die Treue Gottes zu seinem Volk – und damit die Hoffnung auf Zukunft neu gestärkt werden kann
Nicht vom „Weniger“ her denken
In unseren Diözesen wird heute weniger neu gebaut als vielmehr gerungen und überlegt, wie man zurückbauen kann: weniger Gebäude, weniger Ressourcen, weniger Möglichkeiten. Das „Weniger“ ist oft zur entscheidenden Leitkategorie geworden. Das bleibt nicht ohne Folgen. Bei nicht wenigen nagt in der Tiefe der Zweifel, den das Volk Israel in ähnlicher Weise kannte: Warum ist das so? Wie sind wir da hineingeraten? Ist Gott dennoch treu? Gibt es dennoch in irgendeiner Weise Hoffnung auf Zukunft? Mit diesem nagenden Zweifel und der Verunsicherung in uns versuchen wir weiterzubauen: Ist uns bewusst, wo überall diese Verunsicherung zu einer Art „stiller Bauleitung“ geworden ist? Wir planen dann vom Mangel her – wir denken vor allem das „Weniger“.
Wo die Verunsicherung die Bauleitung übernommen hat, richten wir Stützen ein, wo bodentiefe Fenster hingehören. Wir dämmen Räume ab, die nicht mehr gebraucht werden und haben Scheu, Wände herauszunehmen, die nicht tragend sind, um Räume miteinander verbinden zu können. Keine Frage: Vor diesen schwierigen Bauarbeiten können wir uns nicht drücken, denn wir bauen ja kein gänzlich neues Haus. Wir bauen um. Wir bauen weiter. Wir bauen neu. Entscheidend aber ist: werden daraus wirklich Hoffnungsräume? Aus welcher geistlichen inneren Haltung heraus bauen wir weiter?
Schauen wir wieder auf diesen kleinen Abschnitt aus dem Buch Esra. Der Tempel, den das Volk Israel nach der Katastrophe des Exils wieder aufbaute, war längst nicht so prächtig wie der alte Tempel Salomos. Er war kleiner, unscheinbarer, längst nicht so atemberaubend wie Salomos Prachtbau. Also auch hier die Kategorie „Weniger“. Ja, der äußere Bau war kleiner, unscheinbarer und weniger bedeutend. Aber neben diesem „Weniger“ gab es auch ein „Mehr“: Für das Volk Israel bedeutete dieser wiedererbaute, kleinere Tempel wieder mehr Identifikation mit seiner ursprünglichen Berufung; mehr Möglichkeit, den Glauben feiern und Gestalt geben zu können; mehr Selbstbewusstsein, mehr Vertrauen auf Gottes Treue, mehr Hoffnung auf Zukunftsmöglichkeiten, die Gott mit seinem Volk hat, mehr Freude …
Nicht im Krisenmodus verrennen
Genau diese Ambivalenz erlebe ich vielerorts inmitten der Transformationsprozesse: wie wirkungsstark das „Weniger“ einerseits ist und oft wie blass eine Vorstellung über ein „Mehr“, was sein könnte, andererseits. Wollen wir wirklich auch wachsen? Wir dürfen uns nicht im Krisenmodus verrennen.
Ja, Kirche wird in unsrer Gesellschaft weiterhin kleiner und unbedeutender werden. Ja, es gilt, sehr sorgfältig und verantwortungsbewusst dieses vorerst unausweichliche „Weniger“ zu gestalten und nicht mit dem Baubagger mutwillig einzureißen. Wir brauchen echten Mut, konkret ab-, um- und neu zu bauen. Das aber wird uns nur gelingen, wenn wir eine echte Vision davon haben, was dadurch künftig „mehr“ sein wird:
Wirklich mehr Nähe zu den Menschen und ihren konkreten Lebensfragen?
Wirklich mehr Spiritualität als Statistik?
Wirklich mehr Tiefe und Zeugnis unsrer Christusbeziehung als Organisation und Funktion?
Wirklich mehr Vielfalt?
Wirklich mehr Profil?
Mehr Offenheit und weniger Selbstgenügsamkeit?
Was hier nur fast floskelhaft angedeutet wird, kann Leitfrage sein im konkreten Entwickeln vor Ort. Leitend ist nicht die Frage „Wie entwickeln wir das ‚Weniger‘?“, sondern: „Wie können wir wachsen?“ Es braucht den Mut, in neuer, anderer Weise wachsen zu wollen. Es gibt von Heinrich Spaemann einen prägnanten Satz, der nicht nur für unseren persönlichen geistlichen Weg entscheidend ist, sondern auch für unseren gemeinsamen Weg als Volk Gottes. Spaemann sagt: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“ Und wohin schauen wir? Mich leitet der Psalm 127, der überschrieben ist mit dem Titel: Vom Mühen des Menschen und der Segen Gottes. Und der Auftakt des Psalms ist klar: „Wenn nicht der Herr das Haus baut, müht sich jeder umsonst, der daran baut.“ Was wir im Auge haben, dahinein werden wir verwandelt.