„Ein jeder Engel ist schrecklich“ – Ein Gang über den Paderborner Ostfriedhof

„Ein jeder Engel ist schrecklich“ – Ein Gang über den Paderborner Ostfriedhof

Der November ist der Monat der Friedhofsbesuche, ein Garten des Todes und des Lebens. Und der Kunst? Welche Bilder finden Menschen, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen? Ein Gang über den Paderborner Ostfriedhof mit Prof. Josef Meyer zu Schlochtern.

Wie eigentlich kann man den Tod begreifen? Sagen wir, wie es ist: Gar nicht! Dennoch muss man irgendwann damit umgehen. Wenn jemand aus dem eigenen Umfeld gestorben ist, dann steht man vor der Aufgabe, diesen Tod bekannt zu geben und später das Grab dieses Menschen zu gestalten. Welche Bilder lassen sich finden für die Trauer, für die Hoffnung– worauf auch immer–, für die Beziehung, die sich so sehr verändert hat. Früher war das einfacher. Als die Welt zumindest optisch noch christlicher war, hatte man eine Art allgemeinverständlichen Bilderkanon zur Verfügung. Es war einfacher früher, aber künstlerisch nicht unbedingt besser. Findet jedenfalls Prof.Josef Meyer zu Schlochtern: „Frühere Generationen haben auf Kunst verzichtet und einfach das Kreuz hingestellt.“ Mit ihm ist man zu einem Gang über den Paderborner Ostfriedhof verabredet.

Christliche Hoffnung und Erinnerungen

Meyer zu Schlochtern war Professor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät in Paderborn und ist seit Kurzem emeritiert. Die Öffentlichkeit und die Dom-Leser/-innen kennen ihn, weil er immer wieder Kunst in die Kirche und somit ins Gespräch gebracht hat. Nicht unbedingt fromme Kunst, sondern solche, die Fragen an das Leben Gestalt verliehen hat. Den Ostfriedhof hat er vorgeschlagen, er kennt ihn gut, dereinst wird er selbst hier einmal beerdigt werden.

Zielstrebig steuert Meyer zu Schlochtern zunächst das Grab des ehemaligen Verwaltungsleiters der Fakultät an, des Quästors. Es hat noch gar nichts mit dieser Verabredung zu tun, „aber wenn ich hier bin“, sagt er, „gehe ich immer zuerst hin“. Nun, auch, wenn der offizielle Rundgang noch nicht eröffnet ist, schaut man sich das Grabmal an, denn es fällt hier in Ostwestfalen auf: ein schmiedeeisernes Kreuz, wie sie in Bayern stehen. An diesem Grab kommen christliche Hoffnung und Erinnerungen zusammen, Erinnerungen vielleicht an Urlaube oder mindestens an eine Vorliebe des Verstorbenen.  

Zeichen der christlichen Hoffnung, das muss man sagen, schwinden zunehmend, auch wenn über dem Friedhof offenkundig einige Engelschwärme niedergegangen sind. Manche Gräber sind besonders getroffen. Meyer zu Schlochtern murmelt ein Rilke-Zitat vor sich hin: „Ein jeder Engel ist schrecklich!“ Huch, wieso das? Der Satz stammt aus Rilkes Dunesier Elegien, erläutert der Professor, schrecklich ist darin der Engel ob seiner Mächtigkeit. Na ja, aber mächtig sind die Engel auf den Gräbern nicht, eher niedlich. Entfernt erinnern sie an Putten, also an diese kleinen Babyspeckträger, die in barocken Kirchen auf den Hochaltären herumturnen oder die Muttergottes umflattern.

Auf dem Friedhof ist man schnell dazu geneigt, das als Kitsch abzutun, aber das könnte hochmütig sein. Schließlich kennt man weder den Menschen, der da liegt, noch den, der den Engel hingestellt hat. Allerdings sind die kleinen weißen Engel nun auch wieder kein Einzelfall, also sagen sie vielleicht etwas über unsere Gesellschaft als Ganzes aus? Meyer zu Schlochtern erkennt immerhin die Sehnsucht nach Transzendenz, zugleich aber auch eine gewisse Hilflosigkeit, sie auszudrücken. Wo die Hoffnung keine Richtung mehr hat, da bleiben nur noch solche Engel, die wenigstens etwas über das irdische Dasein hinausragen. 

Ostfriedhof – Ein Ort des Lebens

Gräber, so lernt man, erzählen immer Geschichten. Nein, das ist eigentlich falsch. Gräber wecken die Fantasie. So ist es angemessener, denn in Wahrheit weiß man nicht, warum auf diesem Grab, vor dem man jetzt staunend und zunehmend erschüttert mit Meyer zu Schlochtern steht, warum da so viele Engel, eine kleine geflügelte Katze, der Maulwurf aus der Sendung mit der Maus, eingerahmte Landschaftsfotos und weiterer Tand stehen. Zu allem Überfluss sieht das Grab auch noch so aus, als sei schon länger niemand mehr da gewesen. Ein Kind liegt hier nicht, das gibt die Grabsteininschrift nicht her. Dennoch hängt ein großer Schmerz über diesem Grab und das Sammelsurium spricht von einer innigen Beziehung, die der Tod zerrissen hat. Oder vielleicht erst wachgerüttelt. Wer weiß das schon? 

Ein Friedhof ist eben auch ein Ort der Fragen. Hier werden sie gestellt, hier finden sie ihren– manchmal künstlerischen– Ausdruck. Ein Grünspecht lacht von irgendwo hier, einmal hält Meyer zu Schlochtern an und zeigt auf einen prachtvoll herbstlich gefärbten Baum: „Den müssen Sie fotografieren.“ Irgendwie ist der Ostfriedhof auch ein Ort des Lebens, ein Ort jedenfalls, an dem man es sich aushalten lässt, trotz und mit den Fragen.

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