Oliver Reis im Interview – „Wir haben keinen Gläubigenmangel“

Die Kirche im Dorf lassen ist das Anliegen vieler Menschen, oft nicht nur der Gläubigen. Aber wie kann das funktionieren? Darum ging es in dem Modellprojekt „Entwicklung ehrenamtlicher Mitverantwortung“. (Foto: Pixabay)

Dass die pastoralen Räume keine Pfarreien im XXL-­Format sein sollen, steht schon im Zukunftsbild aus dem Jahr 2014. Und doch haben viele Gläubige sie so vor Ort erlebt, was häufig für Konflikte sorgte. In einem Modellprojekt hat das Erzbistum untersuchen lassen, wie die Kirche im Dorf bleiben kann. Mit Prof. Oliver Reis sprach Claudia Auffenberg.

Herr Prof. Reis, in Ihrem Modellprojekt ging es um die Entwicklung ehrenamtlicher ­Mitwirkung. Es gibt bereits ein Gremium der ehrenamtlichen Mitwirkung, nämlich den Pfarrgemeinderat (PGR). Was sollte nun entwickelt werden?

Oliver Reis: „Der PGR ist mittlerweile 50 Jahre alt. Durch die Fusionsprozesse der eigenständigen Pfarreien und die Zusammenlegungen zu Pastoralverbünden und deren Bündelungen in den pastoralen Räumen, die sich seit den 1990er-­Jahren im Erzbistum vollzogen haben, funktioniert er nicht mehr richtig als Gremium der ehrenamtlichen Mitverantwortung vor Ort. Es gab zwar auf der übergeordneten Ebene einen Gesamtpfarrgemeinderat, aber die Frage blieb: Was koordiniert und leitet die ehrenamtliche Arbeit vor Ort?“

Was meint „vor Ort“?

Oliver Reis: „Das meint „am Kirchturm“. Dort ist das kirchliche Leben erhalten geblieben. Denn die Zentralisierungen sind ja nicht eingeleitet worden, weil es keine Ehrenamtlichen mehr gab, sondern die waren eine – auch kirchenrechtlich motivierte – Reaktion auf den Priestermangel. Das hat dazu geführt, dass wir Strukturen gebaut haben, die von der lokalen Ebene weggegangen sind. Die Ehrenamtlichen engagieren sich aber genau dort. Der normale Katholik, die normale Katholikin ist ganz eng verbunden mit dem eigenen Kirchturm, dem eigenen Pfarrheim und lebt so, wie das die katholische Kirche, auch kirchenrechtlich, mit der Priesterrolle eigentlich vorsieht: Der Priester soll ein Hirte sein, der die Nöte seiner Herde kennt und mit ihr lebt. Der Pfarrgemeinderat ist rechtlich nie sauber definiert worden: Berät er den Priester oder ist er ein Gremium der Laienverantwortung? Durch die Fusionen einerseits und die unveränderte Rolle des Priesters andererseits ist ein Vakuum entstanden, das vor Ort häufig unbeobachtet und ungeklärt gefüllt worden ist. Es gibt Runde Tische, Gemeindeausschüsse oder Ortsausschüsse. Das ist zwar durchaus im Sinne des Erzbistums, denn die ganzen Leitbildprozesse, die es seit Beginn der Amtszeit von Erzbischof Becker gab und gibt, haben eine Mitte: mehr Eigenverantwortung. Dennoch sind diese Gruppen keine legitimierten Gremien.“

Und wie würden Sie diese Situation strukturell auffangen?

Oliver Reis: „Das war die Frage an das Modellprojekt. Zu Beginn hat Matthias Kolk, der zuständige Referent im Generalvikariat, sehr viel Literaturrecherche betrieben und in anderen Bistümern geforscht: Welche Modelle gibt es, die die lokale Ebene lebendig halten und zugleich die Verknüpfung auf die obere Ebene, also den pastoralen Raum, gewährleisten? Seit 2018 haben wir mit unserer Studie drei Modelle in ausgewählten pastoralen Räumen probiert und evaluiert. Die drei Modelle sind: ein Pfarrgemeinderat ohne amtliches Mitglied. Die Gremien bleiben vor Ort, aber die Hauptamtlichen belässt man auf der übergeordneten Ebene. Das zweite sind die sogenannten KGR, die Kirchengemeinderäte. Das K kommt vom Kirchenvorstand, denn an manchen Orten gibt es am Kirchturm noch einen Kirchenvorstand (KV). Vorrangig geht es da um Geld, aber faktisch kümmert er sich auch um pastorale Arbeit. Das Modell des KGR reagiert auf diese Situation. Das dritte Modell sind die lokalen Teams vor Ort, die Gemeindeteams. Für mich ist das der radikalste Neuanfang, weil darin die Gemeinden die Selbstverantwortung wirklich – auch liturgisch – übernehmen sollen. Umgekehrt entsteht aber das Problem, dass diese Teams sich nicht mehr wirklich eingebunden fühlen in eine ­Delegationsstruktur, also sich nicht mehr als Teil eines pastoralen Raumes sehen. Sie führen keine zentral geplanten Konzepte aus. Wenn es etwa eine zentrale ­Fronleichnamsprozession geben soll und die eine eigene wollen, dann werden sie eine machen – ­notfalls ohne Hauptamtliche.“

Wie kann man diese Teams einbinden?

Oliver Reis: „Das ist in der Tat nicht einfach. Denn die überlegen: „Was wollen wir machen?“, besprechen sich per Whats­App und schreiben natürlich auch keine Protokolle. Es läuft dann eher so: Wer hat Lust, St. Martin zu organisieren? Vier, fünf Leute melden sich, es gibt eine Arbeitsgruppe und die organisiert das. Wenn sich keiner meldet, gibt es das nicht. Für die Hauptamtlichen heißt das: Sie müssen sich daran gewöhnen, eingeladen zu werden und nicht nur selbst einzuladen. Am Ende des Projektes merken wir jetzt: Das Gemeindebild der Würzburger Syno­de, ein Kirchturm, ein Pfarrer, ein Pfarrgemeinderat, ist schlicht und einfach am Ende und das seit den 1990er-­Jahren. Man hat es aber nicht reflektiert. Der ­Fehler damals war zu glauben, man ­fusioniert und alles läuft auf der höheren Ebene genauso weiter.“

Damals lautete das Credo, auch im Erzbistum Paderborn: Wenn die Leute ins Nachbardorf zum Einkaufen fahren, können sie auch zur Messe dort hinfahren.

Oliver Reis: „Diese Vorstellung ist selbst pro­blematisch. So denkt man Menschen als Atome, die man beliebig trennen oder verbinden kann. Aber das ist nicht so. Die Kirche hat immer das Gegenteil behauptet: Diese Menschen vor Ort gehen mit diesem Pfarrer eine Lebensgemeinschaft ein. Die Lebensgemeinschaft ist seit den 1990er-­Jahren faktisch aufgehoben, aber es ist nie wirklich geklärt worden: Was bedeutet das für das hauptamtliche Personal? Mit unseren neuen Modellen können wir das Leben vor Ort stärken. Wir sehen, wie man die untere Ebene strukturieren kann und wir können den Gemeinden nun unterschiedliche Wege anbieten. Wenn man bedenkt, wie viele Priester wir in den nächsten Jahren noch haben, dann ist jetzt schon klar: Das Modell „PGR ohne amtliches Mitglied“ ist absehbar überholt. Langfristig wird es wohl KGRs oder Gemeindeteams geben.“

Die PGRs sind demokratisch legitimiert. Wie geht das bei den KGRs und den Gemeindeteams?

Oliver Reis: „Diese Frage war lange Zeit unbeachtet, aber jetzt stellt sie sich. Denn die Institution dampft sich ein und damit verkleinert sie ihre institutionellen Vollzüge. Kirche ist nicht mehr einfach da, wo ein Priester kommt und Messe feiert. Jetzt muss die In­stitution in die nicht institutionellen Bereiche wie ein Gemeindeteam hinein über Kooperationen wirken und nicht mehr in Delegationen. Die neuen Gemeindeleitungen werden eher ernannt, beauftragt und zentral bestätigt, als in zentralen Prozessen gewählt.“

Was meinen Sie mit: „Die Institution dampft sich ein“?

Oliver Reis: „In den pastoralen Räumen gibt es deutlich immer weniger Priester, aber sehr viele Kirchtürme. Da kann die Institution gar nicht mehr so sichtbar sein wie bislang noch. Hinzu kommt das Immobilienkonzept, es wird auch weniger Gebäude geben. Die Institution zieht sich zurück, es wird pastorale Zentren geben und wer eine Eucharistie haben will, muss dann nicht mehr ins Nachbardorf, sondern 50, 60 Kilometer fahren. Die Sorge vieler Ehrenamtlicher ist, dass sich das Erzbistum von der territorialen Seelsorge verabschieden könnte. Die Frage für die nächsten zehn Jahre ist daher, wie man die lokalen Gruppen an den pastoralen Raum binden kann, wenn die Hauptamtlichen da nicht aufschlagen. Es wird so werden, dass der normale Katholik einmal im Jahr eine hauptamtliche Person sieht.“

Hoppla, wie in Lateinamerika …

Oliver Reis: „Oder in Afrika. So wird es kommen, also braucht man eine Struktur, die das hält. Aber das ist nicht nur ein Sterbeprozess, es wandeln sich Dinge. Damit lokale Gemeinden lebendig bleiben, braucht man ca. 50, 60 Leute – das reicht. Wenn man das verstanden hat, sieht man sehr viel Wandel. Für diese Territorialgemeinden hat das Erzbistum weiterhin Verantwortung. Auf neue, evangelisierte Gruppen zu hoffen, die von außen kommen und alles ganz anders machen, ist ein großes Risiko. Das wird auch den Leuten nicht gerecht, denen man über Jahrhunderte die bisherige Art von Kirche eingeimpft hat.“

Und diese Leute sind ja noch da.

Oliver Reis: „Sie werden zum Teil auch in 30 Jahren noch da sein, dann eben als 80-­Jährige. Ich prognostiziere, dass 70 Prozent der Kirchengemeinden im Jahr 2050 noch aktiv sein werden. Wir dürfen jetzt nur nicht den strategischen Fehler machen und die großen Räume und die kleinen Gruppen vor Ort getrennt voneinander denken. Noch mal: Wir erleben keine reine Abwärts­spirale, sondern einen Wandlungsprozess und die Menschen brauchen jetzt Leitung und einen Rahmen, in dem dieser Prozess stattfinden kann. Daher muss jetzt dringend über die Frage der Leitung des Raumes gesprochen werden. Bislang ging es um die Frage der Leitung innerhalb des Raumes. Aber wer leitet eigentlich den pastoralen Raum und bindet wie die lokalen Gemeinden ein?“

Aus der Priesterausbildung hört man, dass die Kandidaten das eher nicht wollen.

Oliver Reis: „Genau, sie wollen lieber Seelsorger sein. Das ist die Aufgabe des nächsten Projektes „Gemeinsam leiten“, das im Mai gestartet ist. Da werden wir wieder Modellräume haben, die unterschiedliche Modelle der Leitung des Raumes erproben. In einem Modell ist vorgesehen, dass der in Kooperation und Supervision mit einem Priester eines benachbarten Raumes von Laien, vielleicht von einer hauptamtlichen Frau geleitet werden kann. Das würde massiv etwas verändern, denn der Priester bekommt seine Rolle der geistlichen Leitung zurück und ist nicht mehr Manager eines Netzwerkes. Diese Netzwerk- und Koordinierungsaufgabe wird die Leitung bestimmen und es wird eine wesentliche Aufgabe sein, in diese neuen Formen die Gemeindeteams oder KGRs, die es in Zukunft geben wird, mitzunehmen.“

Sind Sie zuversichtlich, dass es vor Ort noch genügend Leute geben wird, die mitmachen? Alle haben ja schon diverse und ermüdende Veränderungen und Prozesse hinter sich.

Oliver Reis: „Da bin ich sehr optimistisch. Das wird passieren und es passiert ja auch schon.“

Am Horizont „droht“ bereits das Immobilienkonzept des Erzbistums, was auch wieder nach Reduzierung klingt.

Oliver Reis: „Wenn die katholische Kirche anders als die evangelische die Materialität ihres Gotteshauses als sakralen Ort so stark gemacht hat, wenn sie Menschen ­biografisch an einen Ort ­gebunden und verkündet hat: Hier ist dein Ort des Katholischseins, dann kann man jetzt nicht sagen: ­Pustekuchen, wir haben weniger Priester, deswegen gilt das jetzt nicht mehr. Um es ganz ­deutlich zu sagen: Das Problem sind nicht die Ehrenamtlichen!“

Oliver Reis

Prof. Dr. Dr. Oliver Reis (51) ist seit 2016 Professor für Katholische Theologie an der Universität Paderborn, zuvor lehrte er an der TU in Dortmund. Seit einigen Jahren begleitet er das Erzbistum Paderborn in Fragen der Gemeindeentwicklung. Im Rahmen des Projektes „Entwicklung ehrenamtlicher Mitverantwortung“ wurden in vier pastoralen Räumen verschiedene Wege ausprobiert und evaluiert. Immer ging es um die Frage, wie das kirchliche Leben am Kirchturm erhalten und zugleich in die größere Struktur eines pastoralen Raumes eingebunden werden kann. Die Ergebnisse werden am kommenden Wochenende im Rahmen eines Abschlusskongresses im Liborianum vorgestellt.

Aber es ist doch immer vom Gläubigenmangel die Rede!

Oliver Reis: „Das ist die Sicht der Hauptamtlichen, weil sie für ihre Vollzüge nicht mehr die Leute haben, die etwas übernehmen können. An 60, 70 Prozent der Kirchtürme gibt es Leute, die sich engagieren. Das darf man nicht massiv abwerten und sagen, dass das ja nicht das Eigentliche sei oder sie nicht innovativ seien. Man muss ihnen sagen: Macht das, was ihr tut. Ihr seid autark, ihr seid selbstständig. Dann werden die Leute das tun. Also: Wir haben keinen Gläubigenmangel. Wir sind eine Minderheitenkirche, okay. Aber wir können uns noch reproduzieren und die Kirchtürme sind der Ort, wo das geschieht. Wenn eine Gemeinde sagt: Wir wollen unsere Kirche aufgeben, wir schaffen es nicht mehr, dann würde ich sagen: Dann lasst es los. Aber wo eine Gemeinde um ihre Kirche kämpft, dann finde ich es gut, Widerstand zu leisten.

Während der Projektphase sind uns an allen Ecken Fusionstraumata begegnet. Immer haben wir Geschichten gehört, dass die Probleme vor Ort mit den Fusionen begonnen haben. Das ist nicht verarbeitet, daher ist meine ganz tiefe Überzeugung, alle weiteren Schritte können ab sofort nur noch freiwillig geschehen. Man darf den Leuten jetzt nicht noch die Häuser aus den Gemeindevierteln nehmen. Auch wenn kein Priester mehr da ist, die Menschen sind noch da.“

Dann beten wir dafür, dass wir einen Erzbischof bekommen, der das alles mitmacht.

Oliver Reis: „Ja, dafür sollten wir beten! Wenn eine neue Leitung sagen wird, wir zentralisieren jetzt, wir sind zwar eine sehr kleine, aber dafür richtig katholische Kirche, also so richtig richtig, dann ist dieser ganze Prozess am Ende.“

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