04.11.2016

Ein Stachel im Fleisch

Ein Stachel im Fleisch

Rheda-Wiedenbrück. Deutschland geht es gut! Laut Wirtschaftsfachleuten ist unser Land derzeit ökonomisch „hervorragend aufgestellt“. Belegt wird das mit Zahlen, Statistiken und Prognosen. Export, Kaufkraft, Arbeitsmarkt – alles „im grünen Bereich“, so die Experten. Doch welche Aussagekraft haben diese Statements wirklich? Wo kommen solche Verallgemeinerungen an ihre Grenzen? Oft reicht schon ein Blick im direkten Umfeld, um festzustellen, dass längst nicht für alle alles „bestens“ ist.

von Andreas Wiedenhaus

Br. Korbinian Klinger, Franziskaner und Guardian des Wiedenbrücker Klosters, schaute genauer hin und fragte sich, „warum niemand etwas tut“. „Wer in dieser Stadt wohnt, wird täglich mit der Situation der Werkvertragsarbeiter in der Fleischverarbeitung konfrontiert“, sagt der aus Bayern stammende Ordensmann, der seit einigen Jahren in Wiedenbrück lebt.

In Rheda hat die Firma Tönnies ihren Sitz. Europas größter Fleischverarbeiter schlachtete 2015 über 18 Millionen Schweine und mehr als 400 000 Rinder. Der Umsatz betrug im vergangenen Jahr circa 5,6 Milliarden Euro. Vom Stammsitz in Rheda dirigiert Firmenchef Clemens Tönnies den 1971 gegründeten und mittlerweile weltweit agierenden Konzern mit mehreren Niederlassungen in Deutschland und Zweigwerken in Dänemark. Die Exportquote liegt bei 50 Prozent, geliefert wird bis nach China.

Subunternehmer, die für Tönnies tätig sind, beschäftigen Werkvertragsarbeiter vornehmlich aus Rumänien, Bulgarien und Polen. Wie viele genau, weiß niemand. Fachleute gehen davon aus, dass im gesamten Kreis Gütersloh einige Tausend Arbeiter mit Werkverträgen leben.

Neben Br. Korbinian sitzt Inge Bultschnieder. Die beiden haben sich 2013 zum ersten Mal getroffen; beim Pfarrfest der Wiedenbrücker Aegidius-­Gemeinde. Inge Bultschnieder verteilte damals Flugblätter. Sie warb für die Gründung einer Initiative als Interessenvertretung der Werkvertragsarbeiter. Das Zusammentreffen mit Inge Bultschnieder war für den Franziskaner der Beginn seines Engagements in der
„IG WerkFAIRträge“, die sich für gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen der in der Fleisch­industrie Beschäftigten einsetzt.

Inge Bultschnieder selbst kam durch eine Zufallsbegegnung mit dem Thema in Berührung. Bei einem Krankenhausaufenthalt im September 2012. „Meiner Bettnachbarin ging es richtig schlecht“, erinnert sie sich. Die 38-Jährige arbeitete für einen Tönnies-Subunternehmer. Nach einem Asth­maanfall bei der Arbeit war sie ins Krankenhaus gekommen. Die Verständigung zwischen den beiden Frauen war nicht einfach: Katya konnte nur ein paar Brocken Deutsch, Inge Bultschnieder ein wenig Mazedonisch. Was sie trotz der Sprachbarriere in den folgenden Tagen über Arbeits- und Lebensverhältnisse erfuhr, machte die Wiedenbrückerin fassungslos. Der Kontakt riss auch nach der Entlassung aus dem Hospital nicht ab. Immer wieder kümmerten sich Bultschnieders um die Frau, der nach einem weiteren Krankenhausaufenthalt gekündigt worden war.

„Das, was ich mitbekommen hatte, ließ mich nicht mehr los“, erinnert sich Inge Bultschnieder, die sich auch als Christin in der Verantwortung sah, etwas zu tun. Mit kleinen Info-Zetteln lud sie auf dem Pfarrfest zur Gründungsversammlung der Inte­ressengemeinschaft ein. Das erste Treffen fand im September 2013 statt. Zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gingen die Mitglieder mit einem „Bekennermarsch“ am 29. November 2013 zum Tönnies-­Fleischwerk. 150 Demonstranten kamen. Sie trugen Transparente mit Aufschriften wie „Ich habe zu lange zu den Verhältnissen geschwiegen“ oder „Ich habe billiges Fleisch gekauft ungeachtet der Produktionsverhältnisse“. Immer mehr Menschen wurden in der Folgezeit auf die Aktionen der IG aufmerksam. In der Stadt und darüber hinaus. „Totschweigen“ ging nicht mehr, auch wenn viele immer noch lieber wegschauten, als sich mit den Tatsachen zu befassen.

Die Frau im Krankenhausbett nebenan, der Arbeiter, der schon lange wieder in seiner bulgarischen Heimat ist, aber immer noch auf einen Teil seines Geldes wartet – Inge Bultschnieder, Br. Korbinian oder Dr. Almuth Storck, eine Ärztin, die sich ebenfalls in der IG engagiert, können viele solcher traurigen Geschichten erzählen. Beileibe nicht alle hören sie gern. Doch auch dieser Bereich der Arbeitswelt, über den gern geschwiegen wird, ist ein Teil der angeblichen wirtschaftlichen „Erfolgsgeschichte“, die Deutschland gerade schreibt.

Rund eineinhalb Stunden dauert das Gespräch im Wiedenbrücker Kloster bereits. In dieser Zeit sind bei Tönnies, etwa zwei Kilometer entfernt, einige hundert Schweine geschlachtet worden – unter Hightech-Bedingungen, automatisiert und optimiert, auf höchstem Hygienestandard: Nach dem Entladen warten die Tiere auf ihre Betäubung, eine Fußbodenheizung sorgt dafür, dass sie sich wohl fühlen. Wenn sie mit CO2 bewusstlos gemacht sind, kommen sie an einer Kette zum Schlachtband. Mit einem gezielten Stich sorgen die Männer am Band dafür, dass die Schweine durch den großen Blutverlust schnell sterben. Ein Transponder am Haken erfasst jedes geschlachtete Tier mit allen relevanten Daten. Das System wird ständig überprüft. Auf Tierschutz wird im Unternehmen größter Wert gelegt. Die Schweine sollen es „gut“ haben auf ihrem letzten Weg. Hinzukommt: Ein Tier, das „unter Stress“ geschlachtet wird, liefert nur minderwertiges Fleisch.

Nicht auf allen Ebenen in diesem Gewerbe geht es so rücksichtsvoll zu. Um Marktanteile wird mit harten Ban­dagen gekämpft. Die Arbeit
an den Bändern der Fleisch­industrie ist ein echter „Knochenjob“. Wer das nicht schafft, ist unter Umständen ganz schnell draußen. Manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Arbeit und Unterbringung sind für die Werkvertragsarbeiter meistens direkt gekoppelt: Wer den Job verliert, hat auch kein Bett mehr. Die IG weiß von Fällen, in denen Mitarbeiter buchstäblich „auf der Straße“ auf den Bus warten mussten, der sie wieder in die Heimat brachte.

Für Aufsehen sorgte vor einiger Zeit ein Fall, in dem eine Werkvertragsarbeiterin ihre Schwangerschaft aus Angst vor einer Kündigung verschwieg und weiter zur Arbeit ging. Sie brachte das Kind allein zur Welt und setzte es anschließend aus. Das Kind überlebte. Vor dem Bielefelder Landgericht musste sie sich wegen versuchten Totschlags verantworten. Auch um diese Frau kümmerte sich die IG.

Vieles passiert im Stillen. Bei anderen Aktionen wird immer wieder die Öffentlichkeit gesucht: Etwa, als es darum ging, mit einer Demo vor dem Rathaus in Rheda auf die Wohnsituation vieler Vertragsarbeiter aufmerksam zu machen. Der Einsatz der „WerkFAIRträge“-IG fand so immer mehr Beachtung. Geehrt wurde die Initiative unter anderem mit einer Auszeichnung für „Demokratie im Betrieb“ oder dem „Dr.-Lüning-Preis“ der SPD. Nominiert war sie auch für den Panter Preis der Tageszeitung „taz“.

Nicht zuletzt diese überregionale Anerkennung dürfte mit dafür gesorgt haben, dass sich auf höherer Ebene einiges getan hat: Für Werkvertragsarbeiter gelten mittlerweile der deutsche Mindestlohn und deutsches Arbeitsrecht. In Rheda-Wiedenbrück gibt es einen „Runden Tisch Werkvertragsarbeiter“, eine Ombudsfrau soll sich vor Ort für die Arbeitnehmer einsetzen. Die großen Betriebe der Fleischindustrie haben vor rund einem Jahr eine Selbstverpflichtung unterschrieben, durch die Standards festgeschrieben wurden.

Branchenvertreter sehen die Vereinbarung als Meilenstein und betrachten damit ihre Verantwortung als erfüllt. Ob es ohne den Einsatz von Gewerkschaften oder solchen Ini­tiativen wie der „WerkFAIRträge“ überhaupt dahin gekommen wäre, steht auf einem anderen Blatt.

Ist jetzt also alles „bestens“? Inge Bultschnieder schüttelt den Kopf. Noch immer erreichen sie „Notrufe“: Es geht um nicht ausgezahlten Lohn oder Krankenversicherungs-­Karten, die von Subunternehmern „einkassiert“ werden, um Krankmeldungen zu verhindern. Auch die Wohnsituation ist vielfach weiter problematisch. Doch die Vermieter, die mit der Unterbringung „gutes“ Geld verdienen, lassen sich nicht gern in die Karten schauen. „Zutritt nur für Heimbewohner“, machen Schilder an den entsprechenden Häusern in Rheda-Wiedenbrück und Umgebung deutlich, wer willkommen ist und wer nicht.

Zwischen Aufsichtsbehörden und den schwarzen Schafen unter den Subunternehmern bleibt es weiter ein Hase-und-Igel-Spiel. Für die „IG WerkFAIRträge“ der Kampf David gegen Goliath. Allerdings mit starken Verbündeten. Erzbischof Robert Zollitsch hatte sich 2013 als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz deutlich zum Thema geäußert, als er „unhaltbare Zuständen im Souterrain des Arbeitsmarktes“ anprangerte und versprach: „Wer gegen diese Missstände aufbegehrt, hat die Kirche als Verbündete!“ Br. Korbinian beruft sich bei seinem Engagement in der Arbeitswelt auch auf Papst Franziskus und seinen franziskanischen Auftrag: „Kirche soll zu den Rändern gehen und in Bereichen aktiv werden, die der Seelsorge sonst verschlossen sind.

Weitere Berichte zum Thema finden Sie im Dom, Nr. 45, vom 6. November 2016

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