Seit einem halben Jahr ist Leo XIV. Papst
Die katholische Kirche ist intern voller Konflikte. Viele Menschen entfernen sich zunehmend von christlichen Werten. Dazwischen steht ein neuer Papst.
Wo kommt er her? Das haben Journalisten, selbst ernannte Leo-Kenner und Ahnenforscher im vergangenen halben Jahr zur Genüge beantwortet. Doch für die Frage, wohin er gehen wird, gibt es bislang keine Experten. Nur der neue Papst selbst dürfte eine Idee von der Richtung seines Pontifikats haben, das vor allem die innerlich zerrissene katholische Kirche wieder zu mehr Einheit führen soll. In seiner ersten Ansprache wünschte er sich eine Kirche, die Brücken baut, den Dialog pflegt und alle mit offenen Armen empfängt.
Sein Bemühen darum zeigt sich in Zugeständnissen für Katholiken vom linken bis zum rechten Rand. Mehr Teilhabe auch für Nicht-Geweihte? Klar. Eine tridentinische Messe am Kathedra-Altar des Petersdoms? Sicher. Kontinuität zu seinen Vorgängern zeigt sich beispielsweise in der Frauenfrage. Für ein mögliches Weiheamt gibt es die Arbeitsgruppe, die auf vorherige Arbeitsgruppen folgte. Auch bei Ehe und Familie bleibt Leo der katholischen Lehre treu. Förmlichen Segensfeiern für gleichgeschlechtliche Paare erteilt er eine Absage.
Großes Erbe von Franziskus
Das klingt nach Franziskus – wie so vieles im ersten halben Jahr der ersten Kirchenregentschaft eines US-Amerikaners. Denn der an Ostermontag verstorbene Franziskus hat ein reiches Erbe an unvollendeten Projekten, Papstschreiben und Reiseplänen hinterlassen. Der Plan, die päpstliche Sommerresidenz in Castel Gandolfo in das Nachhaltigkeitszentrum „Borgo Laudato Si“ zu verwandeln: Franziskus‘ Wunsch. Das päpstliche Lehrschreiben „Dilexi te“ über den kirchlichen Einsatz gegen Armut: hauptsächlich aus Franziskus‘ Feder. Die erste Reise Leos in die Türkei und den Libanon: unter Franziskus geplant.
Zudem beansprucht den neuen Papst der straffe Terminkalender des Heiligen Jahres, zu dem im Stakkato große Pilgergruppen aus aller Welt anreisen. Bei zahlreichen Sonderveranstaltungen gibt es Messen und eigene Audienzen mit Leo. Hinzu kommen die übrigen Besuchergruppen aus aller Welt, denen eine Ansprache des Papstes gebührt. Gekrönte Häupter wie Staats- und Regierungschefs lenken mit Papst-Fotos gerne den Blick fort von ihren innenpolitischen Querelen. Und dann gibt es noch die internationale katholische Geistlichkeit, die den Austausch mit ihrem Chef sucht.
Knapp ist da die Zeit zum Regieren oder gar zum Beschreiten eines eigenen Wegs. Anders als sein Vorgänger trifft Leo Entscheidungen nicht sprunghaft, sondern mit Bedacht. Als Leiter des weltweit tätigen Augustinerordens hat er gelernt, mit einer heterogenen Gemeinschaft umzugehen. Das mittlerweile in Kirchenkreisen fast schon inflationär gepredigte Zuhören ist Teil seines Regierungsstils. Denn eine sorgfältig abgewogene Entscheidung stärkt die Autorität des Amtes, ein Widerruf aufgrund übersehener Kritikpunkte schwächt sie. Die Weltkirche und die römische Kurie sind empfindliche Netze, sie verzeihen Fehler nur ungern.
So ist es nur folgerichtig, dass Leo XIV. auch lange erwartete Entscheidungen beim Spitzenpersonal sorgfältig abwägt. Lediglich seinen eigenen Nachfolger als Leiter der Bischofsbehörde hat er ernannt – einen alten Bekannten aus der Vatikanbehörde für Gesetzestexte. Von richtungsweisenden und womöglich umstrittenen Personalien wie einem neuen Chef der Glaubensbehörde ist aus dem Vatikan bislang nichts zu hören. Papst Leo XIV. lässt sich Zeit. Und die hat er – anders als weltliche Spitzenpolitiker, die nach ihrer Wahl rasch ihre Versprechen einzulösen versuchen, um nach einer begrenzten Amtszeit wiedergewählt zu werden.
Diese Zeit nutzt er – auch für Ruhepausen außerhalb des Vatikans, wo die Papstwohnung im Apostolischen Palast weiter renoviert wird. Stehen keine wichtigen Termine auf der Agenda, zieht sich Leo für eine Nacht und einen Tag in der Woche nach Castel Gandolfo zurück. Gelegentlich beantwortet er vor seinem Rückweg nach Rom Journalistenfragen – allerdings ähnlich zurückhaltend, wie meist seine Ansprachen und Predigten sind.
Während unter Franziskus stets mit Abweichungen vom Manuskript und möglichen daraus folgenden Kommunikationskrisen zu rechnen war, hält sich Leo fast immer an die Fassung seiner Redenschreiber. Das lässt den Charme des Authentischen bei dem einstigen Mathematik- und Physiklehrer oft vermissen, den er in freier Rede und im spontanen Umgang mit Menschen durchaus zeigt.
Mehr Sprachen für die Weltkirche
Sein Markenzeichen hingegen ist die Vielsprachigkeit. Englisch, Italienisch und Spanisch spricht Leo im fließenden Wechsel. Kommunizieren kann er außerdem auf Französisch und Portugiesisch. Seine Deutschkenntnisse scheint er nachts mit einer Sprachlern-App aufzubessern – wenn sich hinter einem Robert mit dem Nutzernamen @drprevost denn wirklich der Papst verbirgt.
Vorstellbar durchaus, dass die Nachtstunden seine wenige Freizeit etwas verlängern und sein Smartphone ihm dabei Gesellschaft leistet – ablenkend von den Gedanken, wie er die Wogen glätten kann, auf dem das Schiff Weltkirche segelt. Die Herausforderung durch kontroverse interne Debatten ist dabei mindestens genauso gewaltig wie der Gegenwind, der dem jahrhundertealten Wertekoloss katholische Kirche aus immer diverser werdenden Gesellschaften entgegenschlägt. Von der Rolle als neutraler Friedensvermittler in den großen Konflikten dieser Welt, die Leo XIV. erklärtermaßen ebenfalls einnehmen will, ganz zu schweigen.