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07.11.2025
Mit dem Wandel der Begräbniskultur geht für Professor Stephan Wahle eine „gewachsene Tradition“ verloren.
Foto / Quelle: Patrick Kleibold

„Menschen wünschen sich stimmige Rituale“

Der Paderborner Liturgiewissenschaftler Professor Stephan Wahle hat sich eingehend mit Fragen der Erinnerungskultur befasst.

Interview: Andreas Wiedenhaus und Patrick Kleibold
Erzbistum Paderborn

Im November erinnern wir uns der Toten und unserer eigenen Vergänglichkeit. Hat der Tod sonst noch Platz in unserer eher dem Diesseits zugewandten Gesellschaft?

Lange Zeit galt die These von der Verdrängung des Todes aus dem Leben, doch mittlerweile gibt es einen gegenläufigen Trend, der den Tod wieder ins Leben zurückholt. Die Hospizbewegung ist ein prominentes Beispiel dafür. Auch die Individualisierung der Bestattungskultur geht in diese Richtung.

Mit dem Stichwort „Individualisierung“ haben Sie es schon angesprochen: Die Kirche hat ihr Monopol bei der Bestattungs- und Erinnerungskultur verloren. Welche Rolle kann sie noch spielen?

Das Monopol ist aus unterschiedlichen Gründen verloren gegangen. Doch als ein ritueller Anbieter unter vielen sind die Kirchen durchaus noch gefragt, wenn sie es gut machen. Die Menschen wünschen sich ein stimmiges Ritual, tröstende Worte, eine Würdigung des Verstorbenen, eine passende Atmosphäre. Was die Erinnerungskultur anbetrifft: Aleida Assmann hat vom „neuen Unbehagen mit der Erinnerungskultur“ gesprochen. Viele Menschen wollen heute nicht mehr zurückschauen, sondern den Ballast des Vergangenen abwerfen und im Heute leben. Sogar in der Theologie gibt es solche Strömungen, die eher vom Jetzt sprechen und sagen, dass man sich nicht immer an früheren Lebensentwürfen und Traditionen abarbeiten muss. Aber kirchliche Rituale, einen Gottesdienst, kann ich mir gar nicht anders vorstellen, weil sie von dem gekennzeichnet sind, was ich „Gleichzeitlichkeit“ nenne. Wir erinnern uns nicht an etwas, was abgeschlossen und vorbei ist, sondern durch den Akt des Erinnerns wird eine Gegenwart geschaffen. Theologisch ist der gestorbene und auferstandene Christus in der Liturgie gegenwärtig – und mit ihm auch die Verstorbenen. Das ist die Basis unserer Erinnerungskultur.

Hat die Bestattungsform Einfluss auf diese Erinnerungskultur? Welche Rolle spielt etwa das Grab als Ort des Erinnerns?

Auf jeden Fall. Es ist ein Unterschied, ob jemand auf einem Friedhof mitten im Dorf, anonym auf hoher See oder im Wald bestattet wird. Noch vor wenigen Jahrzehnten war eine Feuerbestattung in katholischen Gegenden nahezu ein Tabu, heute gibt es in der Mehrzahl Urnenbestattungen und damit auch eine Vielzahl an Bestattungsformen. Die Folgen dieser Entwicklung werden erst im Nachhinein offenbar: wenn sich Friedhöfe stark wandeln, wenn die Flächen nicht mehr benötigt werden. Es gibt nur noch selten Familiengruften, dagegen anonyme Rasenflächen. Ohne namentliche Kennzeichnung verschwinden Verstorbene aus dem Gedächtnis. Damit verblasst das lebendige Unterwegssein mit den Verstorbenen.

Welche Gründe könnte dieser Wandel haben?

Ich glaube, das hat ganz pragmatische Gründe; es geht um die Grabpflege, um Kosten. Viele wollen die Pflege ihren Kindern nicht mehr zumuten, weil sie zum Beispiel weit weg wohnen. Dazu kommen hygienische und ökologische Gründe, etwa mit Blick auf naturnahe Bestattungen in einem Ruhewald. Die Gründe sind vielfältig. Fakt ist: Eine gewachsene Tradition geht dadurch verloren.

Welche Rolle spielt der Glaube, wenn die Kosten ins Spiel kommen; sind gläubige Menschen bereit, mehr Geld für eine Bestattung auszugeben?

Das glaube ich weniger. Denn so gewaltig sind die Kostenunterschiede gar nicht. Ein Erdbegräbnis in einem schlichten Holzsarg kann mitunter sogar preiswerter sein als die Aufstellung einer Urne in einem Kolumbarium. Die regionalen Unterschiede sind enorm. Sicherlich gibt es Menschen, die ganz bewusst sehr viel Geld für eine Bestattung ausgeben; etwa aus kulturellen Gründen. Grundsätzlich bin ich aber skeptisch, ob man den Grad der Religiosität an der Grabkultur festmachen kann.

Spielt die nachlassende soziale Kon­trolle auch eine Rolle?

Sicherlich. Für mich wäre die Frage interessant, ob sich Friedhöfe in katholischer Trägerschaft in ihrer Erscheinungsweise von kommunalen Friedhöfen unterscheiden: Sind sie als Orte erkennbar, die Auferstehung, die Hoffnung verkünden und positive Zeichen der Solidargemeinschaft von Lebenden und Verstorbenen setzen? Hier und da gibt es Gruppen, die sich um die Grabpflege kümmern oder auch Begräbnisbruderschaften, die dafür sorgen, dass niemand ohne Begleitung beerdigt wird. In einigen Dörfern findet man manchmal noch den „Kirchhof“, einen Friedhof, der in der Ortsmitte liegt und ein zentraler öffentlicher Raum ist. Vielleicht könnte man, da weniger Fläche für Bestattungen gebraucht wird, solche Orte wieder stärker in das Gemeindeleben einbinden.

Die Bestattungskultur ist heute viel differenzierter: Wo sollte und könnte sich die katholische Kirche anpassen? Welche roten Linien sehen Sie?

In der kirchlichen Begräbnisfeier wird der österliche Weg Jesu durch den Tod zum Vater gefeiert, in den der Verstorbene hinein­genommen wird. Weshalb es auch Prozessionen gibt, drei Orte werden zueinander in Beziehung gesetzt: Jemand wird aus der Lebensgemeinschaft abgeholt – früher war es das Totenhaus, heute bieten viele Bestatter diesen Abschied an. Dann wird Gottesdienst in einer Kirche gefeiert und anschließend geht man den Weg gemeinsam von der Friedhofskapelle zum Grab. Es ist doch bezeichnend, dass es einen Trauerzug mit einem Sarg in aller Regel bei Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens noch gibt. Idealerweise wird auch in Präsenz des Leichnams noch einmal – und damit ein letztes Mal – Gottesdienst gefeiert. Das geht auch vor einer Kremation. Diese Reihenfolge ist wünschens- und erhaltenswert. Wenn nur noch absolut minimalistisch kurz die Urne mit der Asche in die Erde versenkt wird, ist das aus meiner Sicht problematisch. Noch schwieriger wird es, wenn der Friedhofszwang wie derzeit in Rheinland-­Pfalz aufgehoben wird und man mit der Asche letztlich „machen kann, was man will“. Damit entzieht man die Toten der Lebensgemeinschaft.

Bei der Bestattungsliturgie ist es aber doch so, dass kirchenferne Menschen ihr kaum folgen können. Sehen Sie Möglichkeiten – etwa mit Blick auf die Sprache – sie anzupassen?

Das müsste man sicherlich. Zum Wesen eines christlichen Rituals gehört es, dass sich zwei Bereiche – das Geheimnis des Lebens und das Geheimnis Gottes – begegnen. Wenn das gelingt, kann daraus etwas Neues entstehen. Kirchliche Rituale sind nicht völlig frei, aber eben auch nicht komplett reglementiert. Viele Gebete und Texte können und sollen angepasst werden. Das gilt auch für die Auswahl der Lesungen und Lieder. Besonders in der Sprache braucht es mehr Sensibilität.

Sie sehen hier also Nachholbedarf?

Wir sind hier als Kirche ganz klar herausgefordert! Auch von anderen Anbietern, die vieles gut machen. Sicherlich ist dort auch nicht alles Gold, was glänzt. Auf jeden Fall kann man sich mal anschauen, wie dort eine gute Trauerrede gehalten und mit welcher Wertschätzung den Angehörigen begegnet wird.

Früher wurde im Gottesdienst ja so gut wie gar nicht auf die Person des Verstorbenen eingegangen.

Es ist noch immer so. Eine Lobrede auf den Verstorbenen soll es im Gottesdienst nicht geben – verkündet wird das Evangelium, die Frohe Botschaft, aber immer im Bezug auf die konkret versammelte Gemeinde. Doch an verschiedenen Stellen der Liturgie ist Raum für stilles, persönliches Gedenken. Auch die Beauftragten für den Begräbnisdienst bringen oft ein feines Gespür für angemessene Feierkultur mit – darin liegt großes Potenzial.

Welche Rolle spielt die Musik?

Eine sehr große! Unter den meist gespielten Liedern bei Beerdigungen sind heute kaum noch Kirchenlieder, höchstens das „Ave Maria“ von Schubert. Allerdings gibt es Grenzen, bei „Highway to Hell“ würde ich auf jeden Fall ein Fragezeichen setzen! Grundsätzlich lässt sich ein populäres Musikstück, das gewünscht wurde, in die Liturgie einbetten. Wenn man es mit einem passenden Wort aufgreift und Bezüge zum Glauben herstellt, steht es nicht mehr nur für sich.

Was ist mit der Trauerkleidung?

Häufig heißt es, dass darauf verzichtet werden darf oder sogar soll.Auch da greift die Individualisierung. Viele wollen sich abgrenzen. Doch zu einer Beerdigung gehören Trauer, Schmerz, Verlust, Trost und auch Klage. Diese Dimensionen überdecken zu wollen, finde ich problematisch. Natürlich hängt es von der Situation ab. Manche betonen, dass man das Leben feiern wolle.

Man will das Leben feiern, aber Auferstehung ist kaum Thema?

Wir feiern in der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten, das darf man nicht vergessen – und das nehme ich sehr ernst!

Wie verändern virtuelle Trauermöglichkeiten die Erinnerungskultur?

Sie haben sich nicht so stark durchgesetzt, wie man zunächst dachte. Virtuelle Kondolenzbücher haben sich meiner Meinung nach nicht etabliert, eine virtuelle Kerze flackert eben nur auf dem Bildschirm. Aber wie sich das künftig entwickelt, bleibt abzuwarten.

Kennen Sie Rituale außerhalb des christlichen Raumes, die man übernehmen könnte?

Mit Formen wie öffentlichen Verbrennungen im Hinduismus oder sogenannten Luft- oder Weltraumbestattungen kann ich wenig anfangen. Positiv finde ich dagegen Rituale, die den Abschied konkret erfahrbar machen – etwa das offene Aufbahren, das in anderen Kulturen verbreiteter ist. Das kann für den Trauerprozess sehr heilsam sein.

Was macht für Sie eine würdevolle Bestattung aus? Können Sie sich an eine erinnern, weil sie besonders würdevoll war oder an eine, wo das Gegenteil der Fall war?

Eine Beerdigung ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: In der Kirche wurden nach der Predigt in einem Film Fotos des Verstorbenen gezeigt, hinter dem im Mittelgang der Kirche aufgebahrten Sarg. Die Präsenz des Verstorbenen war im Ritual eindrücklich spürbar. Ganz anders eine Urnenbeisetzung im Ruhewald: Das Wetter war schlecht, ältere Menschen mit Rollatoren konnten kaum den Weg zum Grab gehen. Der katholische Priester musste sich kurzfassen. Es gab weder einen Gottesdienst noch anschließendes Beisammensein. Alle gingen still aus­einander. Selbst Bestatter berichten, dass sie bei solchen Formen gemischte Gefühle haben.

Zur Person

Prof. Dr. Stephan Wahle ist Lehrstuhlinhaber für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre betreffen die kulturelle Dimension des christlichen Gottesdienstes in Geschichte und Gegenwart, die Reflexion von Liturgie angesichts gegenwärtiger Transformationsprozesse in Kirche und Gesellschaft sowie Grundfragen einer Theologie der Liturgie. Ausgehend von seinen Studien zum Weihnachtsfest beschäftigt Wahle sich besonders mit den Herausforderungen heutiger Fest- und Erinnerungskultur.

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