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03.10.2025
Ein besonderes Datum für die Deutschen ist der 3. Oktober.
Foto / Quelle: Julia Steinbrecht/KNA

"Menschen sind nicht genug geachtet worden"

Berliner Erzbischof Koch: Tag der Deutschen Einheit stärker feiern

Berlin

Der Tag der Deutschen Einheit wird nach Ansicht des Berliner Erzbischofs Heiner Koch zu wenig gefeiert. Die Erinnerung an die Wiedervereinigung vor 35 Jahren müsse lebendig bleiben, sagte Koch in einem am Freitag veröffentlichten Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur und des Portals katholisch.de.

Herr Erzbischof, der Tag der Deutschen Einheit – was ist das für ein Tag für Sie?

Ich finde es bedauerlich, wie wenig dieser Tag von vielen gefeiert wird. Es tut uns allen nicht gut, dass wir das Gedenken an das an diesem Tag Geschehene in uns nicht lebendig halten. Es ist zudem wichtig, die Erinnerung an die damals geschehenen Ereignisse und ihre Bedeutung an die jungen Menschen weiterzugeben. Das ist eine große Herausforderung. Ich war kürzlich mit einer Jugendgruppe am Potsdamer Platz in Berlin und habe ihnen das kupferne Band im Boden gezeigt, an dem entlang die Mauer so viele Jahre stand. Die haben mir das nicht geglaubt. Dieses mangelnde Geschichtsbewusstsein ist eine große Gefahr für den weiteren Weg auch unserer Gesellschaft.

In Deutschland kommt langsam eine Generation ans Ruder in der Gesellschaft, die nach der Deutschen Einheit geboren ist und die Teilung nur aus Erzählungen kennt. Wie erklären Sie denen die Stimmung in der Wendezeit 1989/90?

Es war eine Entwicklung, die ich kurz vorher nicht für möglich gehalten habe. Ich war mir sicher, dass die Einheit irgendwann wieder Wirklichkeit werden würde, aber genauso sicher war ich, dass ich sie nicht mehr erleben würde. Die Menschen, die damals den Mut dazu hatten, habe ich sehr bewundert. Vor allem war ich froh, dass alles friedlich verlief. Deutschland hat zumindest eine Zeit lang sehr stark zusammengestanden. Heute erlebe ich Tag für Tag, gerade auch in Berlin, wie gespalten unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht ist.

Was ist rückblickend schiefgelaufen, dass wir 35 Jahre nach der Einheit zum Teil noch eine Spaltung zwischen Ost und West haben?

Es war den meisten damals vermutlich nicht klar, was der Abriss der Mauer an Problemen mit sich bringen würde, etwa in der wirtschaftlichen Entwicklung, in rechtlichen Fragen und in weltanschaulichen Fragen. Viele der früheren Immobilieneigentümer kehrten damals zurück in die DDR, hatten Anspruch auf ihre Häuser und verunsicherten die, die da mittlerweile wohnten. Viele Firmen wurden abgewickelt, dadurch wurden ganze Arbeitsbiografien abgebrochen. Ich verstehe, wenn politisch Verantwortliche damals sagten, man könne nicht warten, bis alles ins Letzte durchdacht und durchplant sei. Aber viele Entwicklungen verliefen nicht gut. Viele Menschen verließen zudem nach der Wende den Osten und kehrten nicht mehr zurück. Wir wissen heute noch nicht, wie das in unserer Gesellschaft und in vielen Familien wieder aufzuarbeiten ist.

Heiner Koch, Erzbischof von Berlin.
Foto / Quelle: Julia Steinbrecht/KNA

Sie sind als westdeutsch sozialisierter Mensch in die neuen Bundesländer gekommen, zunächst wurden Sie Bischof von Dresden-Meißen. Was ist Ihnen aus einer westdeutschen Perspektive da besonders aufgefallen?

Ich merke immer mehr, dass die Rede von „dem Osten“ die ganze Wirklichkeit des Ostens nicht erfasst. Ich habe viele Bücher darüber gelesen, was den Osten ausmache. Ich finde keines, das die Komplexität des Ostens abbildet. Der Osten ist viel differenzierter als man denkt. Zumal viele Gegenden, das kann ich auch aus meinem Bistum sagen, westlich „überformt“ sind. Ich wäre sehr vorsichtig mit der Bewertung, was den Osten und was den Westen heute ausmache. Was es aber offensichtlich gab und bis heute gibt: eine Verletzung der eigenen Wertschätzung – das ist aus meiner Sicht das Hauptproblem für viele.

Sie können die Unzufriedenheit also nachvollziehen?

Das ist bei weitem zunächst keine materielle Unzufriedenheit. Sie sprachen gerade Dresden an: Dresden ist eine blühende Stadt. Auch wenn sie in die umliegenden Dörfer kommen, stellen Sie fest, wie weit da alles entwickelt ist. Dass die Menschen aber nicht genug geachtet worden sind, ist zweifelsohne das Grundübel.

Der Vorwurf aus dem Westen lautet oft, die Menschen in der ehemaligen DDR seien undankbar. Sie wüssten nicht zu schätzen, wie gut es ihnen eigentlich gehe.

Das erlebe ich so nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass die meisten diese Entwicklung zur Deutschen Einheit wollten und sie bis heute nicht bedauern. Ich glaube eher, dass viele sagen: Wir wollen uns von euch im Westen nicht vorschreiben lassen, wie wir leben und wie wir wählen sollen. Wir zeigen es euch.

Frage: Und wählen die AfD?

Ja, als Protest. Klar, es gibt in dieser Partei politische Extremisten. Dennoch glaube ich nach wie vor nicht, dass der Großteil der Menschen, der AfD wählt, die Partei auch in der Regierung sehen will.

Frage: Haben Sie Angst vor den nächsten Landtagswahlen?

Ich habe große Sorgen. Wir als Kirche haben uns eindeutig positioniert. Das trifft aber viele AfD-Wähler nicht, weil die Kirche in ihren Augen zum „Establishment“ gehört. Das schmerzt schon. Das ist natürlich auch eine Frage an die Stellung der Kirche im Osten. Trotzdem bleibt es wichtig für uns, zu bekennen, wovon wir überzeugt sind.

Aber unter den Katholiken in Ihrem Bistum gibt es vermutlich auch sehr viele AfD-Anhänger, oder?

Es wird da sicherlich eine Anzahl geben. Wir versuchen das auch in den Pfarreien zur Sprache zu bringen. Eklatante Fälle von AfD-Verantwortlichen, die gleichzeitig in Kirchengremien sind, sind mir aber nicht bekannt. Es gab zwei, die wir gut gelöst haben.

Was passiert, wenn der erste AfD-Ministerpräsident ins Amt kommt?

Ich hoffe, dass das nicht passiert, aber dann müssen wir demokratisch damit leben. Wir werden uns darauf einstellen, aber natürlich nicht von unseren Überzeugungen abrücken. Die werden wir dann erst recht hochhalten.

Viele, die in der DDR gelebt haben, sprechen heute in Gesamtdeutschland von DDR-Verhältnissen bei der Meinungsfreiheit: Man dürfe nicht sagen, was man möchte. Was entgegnen Sie denen?

Ich frage dann immer, wo sie ihre Meinung nicht frei sagen können. Ich glaube, dass oftmals auch in dieser Frage die Meinung extremer Personen in der öffentlichen Wahrnehmung überproportional herausgehoben wird.

Was können die westdeutschen Bistümer von den ostdeutschen lernen?

Zunächst, dass der Glaube nicht selbstverständlich ist. Und dass das Missionarische eine große Kraft ist, manchmal aber auch sehr anstrengend. Ich bin sehr davon angetan, wie viele Erwachsenentaufen wir erleben, in Berlin seit Anfang des Jahres etwa 200. Das kompensiert zahlenmäßig nicht die Austritte. Aber in den Familien der Neugetauften lebt oft kein einziger Christ. Sie sagen dennoch: Ich entscheide mich für Christus und für diese Kirche. Das begeistert mich. Ich merke zudem eine große Offenheit für den Glauben, auch bei Leuten, die nicht christlich sind. Gerade in Sankt Hedwig in Berlin: Dort kommen viele, um einen Gottesdienst mitzufeiern, auch obwohl sie nicht getauft sind. Und was man natürlich auch von uns lernen kann: eine bescheidene Kirche zu sein. Wir haben nicht die großen finanziellen und personellen Mittel. Das erleichtert manches.

Frage: Wird die heutige Situation im Osten in zehn Jahren auch die im Westen sein?

Genau so wird es nicht sein. Die Tradition ist dort doch eine andere. Die Zahlen der Menschen, die irgendwie Kontakt zur Kirche haben, sind im Westen und im Süden viel größer. Unsere Aufgabe ist die Erst-Evangelisierung. Wir stellen die Kernfrage nach Gott und der uns in ihm eröffneten Zukunft, die sich die meisten heute gar nicht mehr stellen.

Sie als ein West-Bischof im Osten: Würden sie es unterstützen, dass es dort künftig auch nur Bischöfe aus dem Osten geben soll?

Das würde ich mir auf jeden Fall wünschen. Auch weitere Ost-Leute im Westen (lacht).

KNA

Zur Person

Heiner Koch (71) stammt aus Düsseldorf. 2006 wurde er Weihbischof in Köln, 2013 Bischof von Dresden-Meißen und 2015 Erzbischof von Berlin.

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