Isländer lieben Bücher
Die Weihnachtsbücherflut hat in Island eine lange Tradition.
So eine fantasievolle Wortschöpfung gibt es wohl nur auf Isländisch: Jolabokaflod. Übersetzt bedeutet das Weihnachtsbücherflut und beschreibt eine alte Tradition auf der Insel im Nordatlantik. Sobald die Advents- und Weihnachtszeit naht, geraten die Isländer in einen Bücherkaufrausch. Denn kein Geschenk ist schöner als ein gedrucktes Buch.
Die Vorfreude beginnt Mitte November, wenn der Buchkatalog aller im Kalenderjahr erschienenen Bücher veröffentlicht wird. Neben zahlreicher Neuerscheinungen isländischer Autoren sind 2025 etwa dabei: „Graduga lirfan“ – „Die kleine Raupe Nimmersatt“ – und „Heima“, die Übersetzung von Judiths Hermanns Roman „Daheim“. Und all das in einer Sprache mit nicht einmal 400.000 Sprechern.
Erstmals herausgegeben wurde der Buchkatalog Bokatidindi 1890, damals noch als dünnes, gedrucktes Heftchen. Die Papiertradition ist bis heute erhalten – allerdings mit schrumpfender Auflage von derzeit 42.000 Exemplaren. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren waren es noch knapp dreimal so viele. Trotzdem bleibt die Zahl der Druckexemplare im Vergleich zu einer Bevölkerung von weniger als 365.000 Menschen hoch – und selbstverständlich.
Traditionen schaffen Gewissheiten
Denn dass die gedruckte Variante bald eingestellt wird, davon ist im hochdigitalisierten Island – es belegt Platz fünf auf der UN-Rangliste zur digitalen Entwicklung innerhalb der Verwaltung – nicht auszugehen. Man möchte an Traditionen, die Kultur und Geschichte verbinden, festhalten, schreibt Heidar Ingi Svansson, Vorsitzender des Isländischen Verlegerverbandes, im diesjährigen Vorwort. Denn Traditionen „geben uns die Gewissheit, dass es trotz der Unwägbarkeiten des Lebens Dinge gibt, die sich nicht ändern“. Bücher an Weihnachten und der mit Sehnsucht erwartete Katalog gehören seit Jahrzehnten dazu.
Fahrt aufgenommen hat die Weihnachtsbücherflut allerdings eher aus der Not heraus während des Zweiten Weltkrieges. Island – obwohl Nato-Mitglied hat es bis heute keine Armee – war neutral, wurde aber ab 1940 von britischen Streitkräften besetzt, um deutschen Truppen zuvor zu kommen. Papier gehörte zu den wenigen Luxusgütern, die nicht rationalisiert wurden. So wurden Bücher in den Kriegsjahren zum beliebten Geschenk.
Die Begeisterung für Geschichten ist indes viel älter. Die Islandsagas – Erzählungen über Familien, die Besiedelung der Insel und den mühsamen Alltag – reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Sie wurden vorgetragen, auswendig gelernt, manchmal sogar aufgeschrieben und waren ein kostbarer Schatz, der von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Das passt zur dünn besiedelten und über viele Monate dunklen Insel.
Heute hilft der Bokatidindi. Hat man sich inspirieren lassen, werden Bücher gekauft und an Heiligabend verschenkt. Auch selbstverständlich: das Schmökern in gemeinsamer Runde. Die frühere Ministerpräsidentin Katrin Jakobsdottir wurde vor einigen Jahren sogar mit dem Satz zitiert, dass es ein „ziemlicher Mist“ sei, bekomme man kein Buch geschenkt. Jakobsdottir, von 2017 bis 2024 Regierungschefin, hat übrigens selbst während ihrer Amtszeit mit Schriftsteller Ragnar Jonasson ihren ersten Krimi mit dem Titel „Reykjavik“ geschrieben. In diesem Jahr von dem Autoren-Duo erschienen: „Franski spitalinn“. Die Übersetzung ins Deutsche steht noch aus.
Das überrascht nicht. 2013 zählte das Land laut Guinness-Buch der Weltrekorde gemessen an der Bevölkerung die höchste Zahl der Schriftsteller weltweit. Demnach schreibt jeder zehnte Isländer in seinem Leben mindestens ein Buch. Die Autoren sind längst international gefeierte Stars.
Vor allem Krimiautoren mit Weltruhm
Eher wenig bekannt dürfte in Deutschland noch Halldor Laxness sein, Nationaldichter, Verfasser von „Die Islandglocke“ und im Jahr 1955 Islands erster und bis heute einziger Literaturnobelpreisträger. Hier wurde isländische Literatur hingegen vor allem durch die Übersetzung der Krimis von Arnaldur Indridason bekannt. „Nordermoor“ war 2003 sein erstes Buch, das auf Deutsch erschien. Seitdem sind vor allem Krimiautoren bekannt. Mitunter macht es den Anschein, dass es auf der Insel zwischen Feuer und Eis besonders grausam zugehen müsste. Tina Flecken, die den 2025 im Suhrkamp Verlag erschienen Roman „Eden“ von Audur Ava Olafsdottir ins Deutsche übersetzt hat, betont jedoch die Vielschichtigkeit der literarischen Themen. „Durch die isolierte Insellage am Rande der bewohnten Welt einerseits und die globale Vernetzung andererseits haben isländische Autor*innen oftmals einen sehr eigenen, unverstellten Blick auf die Welt.“
Das spiegelt laut Flecken auch der deutsche Buchmarkt. Ein beträchtlicher Teil isländischer Literatur sei präsent; neben Krimis Neuentdeckungen wie „Unser leuchtendes Leben“, aber auch Klassiker und Lyrik. Trotz aller Begeisterung, Lesefreude und Superlative ändert sich aber auch in Island das Leseverhalten. Auf der Homepage des isländischen öffentlichen Fernsehsenders RUV wurde Mitte November aus einer unter anderem vom Isländischen Literaturzentrum in Reykjavik in Auftrag gegebenen Studie zitiert. Jolabokaflod hin oder her: Isländer lesen oder hören Bücher mittlerweile nur noch 59 Minuten pro Tag und somit zehn Minuten weniger als noch 2022. Zum Vergleich: In Deutschland lasen laut Statistischem Bundesamt in Wiesbaden die Menschen im Jahr 2022 täglich im Schnitt 27 Minuten.
Ungewöhnlich für die Isländer auch: In der Studie gab knapp jeder Fünfte an, nie Bücher zu lesen. Doch wer einmal die alte Tradition fortsetzt, kommt monatlich auf 2,3 Bücher.