Beten im Bordell
Zwischen Gewalt und dem Wunsch nach Ausstieg: Ein Verein schenkt Prostituierten neue Hoffnung.
Nelli Seidel kniet vor einem Bett, neben ihr eine Prostituierte. Hinter ihnen hängt ein Bildschirm, auf dem sonst durchgängig stumme Pornos flimmern. Das rote Licht ist gedämpft, es riecht süßlich nach Seife und billigem Parfüm. Seidel und die Frau halten einander an den Händen. Sie beten gemeinsam, die Prostituierte weint. So beschreibt Seidel, Vorsitzende des Vereins „Mission Love“, eine typische Erfahrung im Bordell.
Dieses Sexgeschäft möchte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner verbieten. Sie fordert das Nordische Modell für Deutschland, ebenso Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Seit 2002 ist Sexkauf in Deutschland legal; dagegen gilt das Nordische Modell seit rund 20 Jahren in Schweden und mittlerweile auch in Frankreich, Israel, Island, Kanada und Irland. Dabei ist Sexarbeit verboten – aber nicht die Prostituierten werden kriminalisiert, sondern Freier bestraft. Zugleich erhalten die Frauen umfassende Hilfsangebote, um berufliche und persönliche Perspektiven zu entwickeln. Zudem werden Ausstiegsangebote geschaffen und bereits Schülerinnen und Schüler zum Thema aufgeklärt.
Ins Bordell "nicht für Blümchensex"
Dafür setzt sich auch der Verein „Mission Love“ ein. Seit acht Jahren besucht die Vorsitzende Nelli Seidel Bordelle und Erotik-Einrichtungen in Bonn und Umgebung. Die Prostituierten kennen sie. Am Anfang hätten die Frauen gelächelt und, ähnlich wie bei Besuchen des Gesundheitsamts, gesagt, alles sei gut. Nach und nach zeigten sie, was sie wirklich fühlen: Sie weinten und erzählten ihr von ihren Erfahrungen.
Die Prostituierten sprächen mit Seidel darüber, wie Freier ihnen Pornos zeigen, die sie nachstellen wollen. Denn: „Für Blümchensex geht keiner ins Bordell.“ Sie sprächen mit Seidel über Vergewaltigung als Strafe, wenn sie nicht gehorchen – nicht von weiteren Freiern und nicht im Bordell, sondern gewaltvoll etwa auf dem Rückweg. Sie erzählten ihr, wie manche nach jedem Freier duschen, um sich weniger beschmutzt zu fühlen – mitunter 20 Mal pro Tag. So viele Freier seien keine Seltenheit. Die meisten hielten das nur unter Alkohol- und Drogeneinfluss aus, die sie teilweise von ihren Chefs bekämen.
Und was sagen die Bordellbesitzer zu ihren Begegnungen? Seidel sagt, sie hätten kein Problem mit ihren Besuchen. „Die wissen sehr wohl, dass wir den Frauen guttun.“ Die Besuche dauern oft nur wenige Minuten. Aber ein Mensch, der den Frauen für kurze Zeit zuhört, hebe ihre Stimmung – gerade wenn es sonst düster sei. Seidel spricht davon, wie die Frauen nicht mehr wie Menschen behandelt würden. Über ihr Leben bestimmten andere, jede ihrer Entscheidungen seien dem Zuhälter und anderen ausgeliefert: „Das Krasse ist, dass man nicht weiß, wer als Nächstes kommt.“
Wenn sie nichts mehr kontrollieren können, gebe es vielen Prostituierten Halt, auf Gott zu vertrauen und zu ihm zu beten. Täglich. Mehr als in Kirchen, sagt Seidel. Viele Latinas, die eine große Gruppe in diesem Milieu ausmachen, seien katholisch aufgewachsen. Sie selbst betet auch für die Frauen, wie es früher, als sie Kinder waren, ihre Mütter und Großmütter taten.
Hohe Dunkelziffer in "dreckigem" Geschäft
Seidel wünscht sich für jede betroffene Frau, „dass dieses dreckige, verachtende und menschenunwürdige Geschäft aus Deutschland verschwindet“. Für viele Frauen: Laut Statistischem Bundesamt waren es Ende des vergangenen Jahres knapp 32.300 Prostituierte bei über 2.200 Prostitutionsgewerben. Die Dunkelziffer ist wohl um ein vielfaches höher.
Für realistisch halte sie ihre Hoffnung nicht. „Diese Entwicklung und Maßlosigkeit, die sich in Deutschland zuspitzt – das gab es, glaube ich, so noch nie.“ Um dies zu verändern, gehen sie und die anderen Vereinsmitwirkenden nicht nur ins Bordell, sondern auch – mit einigen anderen – einmal im Jahr für den globalen „Walk for Freedom“ auf die Straße. Mit schwarzer Kleidung und Regenschirmen tragen sie schweigend ihre Plakate durch die Städte – in der Hoffnung auf neue Gesetze.