07.02.2020

Vom Grauen der Nazizeit

Dr. Michaela Vidláková aus Prag berichtete im Pfarrheim St.Marien in Siegen von der Deportation ihrer Familie ins KZ Theresienstadt. Foto: Dekanat Siegen

Siegen (jon). 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz war eine ganz besondere Zeitzeugin zu Gast in Siegen: Im Pfarrheim St.Marien berichtete die 83-jährige Dr.Michaela Vidláková von ihren Erlebnissen als Jüdin in der Nazizeit.

Schon seit 1996 kommt die gebürtige Pragerin immer zu Jahresbeginn nach Siegen, um von ihrer Kindheit im Getto Theresienstadt zu berichten. Dabei erklärte sie auch ihre Verbindungen zu Siegen. Nach dem Tod von Artur Radvanský habe sie dessen Anliegen aufgegriffen. Bereits Jahre zuvor habe dieser mit seinen Erzählungen Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus in Siegen gesetzt. Seitdem führt Frau Vidláková diese Berufung mit einem hohen Engagement, viel Disziplin und auch viel Freude weiter. Zehn Vorträge standen auch in diesem Jahr auf dem Programm. Und doch oder gerade deshalb strahlt die vitale, agile 83-Jährige Ruhe, Frieden und Weisheit aus.

Eine friedliche und glückliche Kindheit durfte sie nur zwei Jahre lang erleben. 1936 als Michaela Lauscherova in Prag geboren, wurde für sie nach der Annexion des Sudetenlandes und der sogenannten „Rest-Tschechei“ durch Nazi-Deutschland alles anders. Die diskriminierenden Nürnberger Gesetze erlegten den Juden Ausgrenzung, Verbote und Verfolgung auf. Im Dezember 1942 wurde das fast sechs Jahre alte Mädchen mit den Eltern ins KZ Theresienstadt deportiert. Ausgelegt für 8000 Menschen, wurden dort nahezu 60000 Menschen zusammengepfercht.

Fast freudig nahm die kleine Michaela die Nachricht von der Zugfahrt auf, da sie sich davon ein Wiedersehen mit ihren geliebten Großeltern versprach. Teils war sie mit ihren Eltern dort in Baracken untergebracht, teils lebte sie in einem Kinderheim vor Ort und konnte ihre Eltern nur zu den Besuchszeiten sehen. Trotz der grausamen und hoffnungslosen Zustände konnte die kleine Michaela diesen Zeiten auch immer wieder etwas Positives abgewinnen. Während ihrer Zeit im Kinderheim durfte sie endlich wieder mit Kindern spielen.

Scharlach & Masern

Im Lager litt Michaela unter vielen Krankheiten. Gebeutelt von Scharlach, Masern, Typhus, Gelbsucht und abschließend einer Herzmuskelentzündung musste sie ein ganzes Jahr schwer krank in einem Krankenhaus ohne medikamentöse Versorgung verbringen. Während dieser Zeit erhielt sie ihren ersten und einzigen Deutschunterricht von einem Mitpatienten. Der Wissensdurst wurde durch ältere Jugendliche gestillt. Und wissensdurstig war und ist die Rednerin. Schulische Bildung wurde für die bis zu 15000 Kinder im Getto geheim und im Untergrund organisiert.

Lebenswille, Zuversicht, der Zusammenhalt der Familie und glückliche Umstände sorgten dafür, dass die Familie nicht in ein Vernichtungslager deportiert wurde. Als im Oktober 1944 der Vater nach Auschwitz gebracht werden sollte, deckte ein Sturm Dächer ab und der Vater wurde als Arbeitskraft vor Ort benötigt. Der letzte Zug von Theresienstadt ins Vernichtungslager fuhr ohne die Lauscherovas ab.

Das KZ Theresienstadt wurde am 8.Mai 1945 durch die Rote Armee befreit. Ende 1945 kehrte die Familie nach Prag zurück. Dr.Michaela Vidláková studierte später Biologie und Chemie. Ihr ist es wichtig, das Wissen um die grauenhaften Folgen von Antisemitismus und Rassismus lebendig zu erhalten. „Schweigen Sie nicht und schauen Sie auch nicht weg“, mahnte die unbeugsame Tschechin.

Die Schlichtheit des Vortrages und die positive Art der Referentin zogen alle Zuhörer in ihren Bann. Sehr sachlich, unterlegt mit zahlreichen Dokumenten und Familienbildern, vermittelte sie den Zuhörern ansatzweise das Grauen, das die jüdische Bevölkerung in dieser Zeit erlitt. Betroffenheit und Schweigen herrschte, nachdem sie ihre Geschichte beendet hatte, aber auch Dankbarkeit über den Besuch der Zeitzeugin.

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