50 Jahre Ungewissheit
Anfang Februar 1941 erschien im „Leo“, dem Vorgänger des „DOM“, ein Beitrag mit dem Titel „Eine Soldatenweihnacht“. Verfasst hatte ihn der aus Obermarsberg stammende Johannes Siebers.
„In einem romantischen Waldtal, in der Nähe unserer Unterkunft, liegt, halb versteckt zwischen mächtigen Tannen, eine Waldkapelle, im heimischen Stil gezimmert. Schon bei ihrem ersten Anblick kam uns der Gedanke: Das wäre eine ideale Kapelle für unsere Christmette. Eine Woche vor dem Fest fragen wir an beim Verwalter, einem Volksdeutschen; er ist gerne bereit.“ So beginnt die Geschichte, in der der damals 26-Jährige nicht nur die Feier der Christmette schildert, sondern auch beschreibt, welche Hindernisse auf dem Weg dahin aus dem Weg zu räumen waren und wie viel Einsatz und Einfallsreichtum alle Beteiligten dabei zeigten.
Der Kompaniekaplan sei nach einer Besichtigung sehr angetan gewesen von dem Raum, schreibt der Obermarsberger, um dann allerdings gleich auf die Probleme überzuleiten: „Das Licht brennt nicht, beim Harmonium will’s der Blasebalg nicht mehr tun, das Glockenseil hat ein Eichhörnchen abgenagt, und läuten müssen wir doch; die Messgewänder sind zu alt, und vor allem: eine beißende, durchdringende Kälte im Raum.“
Die Schwierigkeiten werden zum Ansporn und unter den Soldaten finden sich entsprechende Fachleute: Ein Elektriker flickt mit „organisiertem“ Draht die Lichtleitung und kann auch die Sicherung reparieren. Sie war herausgesprungen, nachdem ein elektrischer Heizkörper installiert worden war.
Drei Tage vor dem Fest wird allerdings die Zeit knapp, doch dem Kaplan gelingt es, sieben Mann für ein „Kapellenkommando“ bei der Kompanie loszueisen. Ein Sanitätssoldat – im Zivilberuf Klavierbauer – flickt das Harmonium mit Leukoplast. Und mit viel Einsatz und der Hilfe eines einheimischen Jungen wird auch das Seil ersetzt und die Glocke kann wieder läuten.
Ein Rosenkranz und Geld überwinden die Sprachbarriere
Fünf große Tannen, die man in einiger Entfernung geschlagen hat, werden mit der Unterstützung von Fuhrleuten per Schlitten zur Kapelle gebracht. Johannes Siebers schreibt: „Einen Einheimischen mit seinem Schlitten halten wir an, er versteht kein Wort. Der Kaplan zeigt den Rosenkranz: dafür Tannen fahren. Allmählich erfasst er’s, der Glaube hilft nach, und es gibt auch Geld. Noch ein zweiter Schlitten wird mit den schweren Tannen beladen und vor die Kapelle gebracht. Langsam weihnachtet es auch in der Kapelle.“
Ein Schreiner repariert die Treppe. Dieser „evangelische Kamerad“, wie Siebers schreibt, „zimmert uns noch zwei Leuchter für den Altar. Sein schönster Lohn: heute Nacht dabei zu sein.“ Sogar ein Küster findet sich unter den Soldaten: „Von einem Schwesternheim hat er Paramente und Altartücher geliehen, Wachskerzen hat er vom Urlaub mitgebracht. Baumkerzen und Halter hat irgendeiner in der Stadt gekauft. Aus Tannengrün, Kerzen und weißem Linnen wird der Altar unter seiner Hand ein Schmuckwerk.“
Dann ist die Stunde der Messfeier gekommen: „Nachts um halb zwölf läutet eine helle Glocke durch das stille weihnachtliche Tal und über die verschneiten Tannenwälder. Bei ihrem Klang lösen sich die lauten Soldatenfeiern auf, und mancher, der sonst nicht zur Kirche kommt, pilgert um Mitternacht durch das verschneite Tal zur Waldkapelle. Ihre hellen Fenster leuchten weithin durch die dunklen Tannen.
Als der Kaplan zum Altar tritt, ist die Kapelle dicht gefüllt: sämtliche Offiziere der Kompanie, der Stellvertreter und Adjutant des Kommandeurs, eine Reihe Unteroffiziere, Katholiken und Protestanten, deutsche Arbeiter vom Sägewerk und noch viel unbekannte Gesichter waren da und wollten eine deutsche Christmette feiern. Die alten lieben Weihnachtslieder klingen auf, und aus frohbewegten Herzen singen alle mit, auch die, die Kirchenlieder schon lange verlernt haben. Der Priester verkündet die Weihnachtsbotschaft, spricht zu den Soldaten von der Weihnachtsfreude über die Christgeburt, die heute alle Herzen erfüllen soll, ob in der Heimat bei der Familie oder auf einsamer Wacht draußen im Felde; er spricht von dem heiligen Geschehen, das sich in dieser mitternächtlichen Stunde auf dem Altare aufs neue vollzieht. Dichtgedrängt ist die Zahl derer, die zum Tisch des Herrn geht.“
„Wen man auch nachher sprach, die Feier in der hochheiligen Nacht in der einsamen Tatrakapelle war für jeden ein Erlebnis, das das deutsche Herz und Gemüt tief bewegt und ergriffen und vielen deutschen Soldaten die echte Weihnachtsfreude gegeben hat, sie war für die, die sie vorbereitet hatten der schönste Lohn ihrer Arbeit, für alle Soldaten aber, die sie miterlebt haben, wird sie eine unvergessliche Erinnerung bleiben an ihre Kriegsweihnacht 1940 im Felde.“ Mit diesen Sätzen endet die Geschichte.
Autor Johannes Siebers hatte nach einer Ausbildung zum Bibliothekar beschlossen, Priester zu werden und Theologie studiert. 1940 wurde er kurz vor Beendigung seines Studiums als Sanitätssoldat zur Wehrmacht eingezogen, die Priesterweihe empfing er im März 1941 während eines Heimaturlaubs. Am Ostersonntag des Jahres feierte er unter Soldaten seine erste heilige Messe als „Feldkaplan“. Mitte 1943 erhielt seine Familie dann die Nachricht, dass Johannes Siebers vermisst werde. Mit dieser Ungewissheit mussten die Angehörigen über fünf Jahrzehnte leben.
Nach der Öffnung des Ostblocks erhielt die Familie in einer Mitteilung des Suchdienstes des Roten Kreuzes diese Nachricht: Johannes Siebers war mit 29 Jahren am 28. Dezember 1943 in einem russischen Kriegsgefangenenlager bei Stalingrad gestorben. Sein Name ist auf dem Soldatenfriedhof des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Rossoschka vermerkt.
Gedächtnisamt mit Weihbischof Nordhues im Dezember 1993
Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod wurde dann in der Stiftskirche Marsberg am 29. Dezember 1993 ein Gedächtnisamt gefeiert. Zelebrant war Weihbischof Dr. Paul Nordhues, der zu Siebers Weihejahrgang gehörte. Er gedachte im Gottesdienst nicht nur seines Studienfreundes und Mitbruders, sondern auch der zahlreichen Opfer von Stalingrad, die in Russland ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Hiltrud Ressel, die 83-jährige Nichte von Johannes Siebers, erinnert sich an ein Gespräch, das sie mit Weihbischof Nordhues nach dem Gedächtnisamt führte. Darin schilderte der Weihbischof eine Begebenheit, die ihm über Jahrzehnte im Gedächtnis geblieben war: Vor ihrer Weihe hätten Priesteramtskandidaten aus Paderborn in Münster bei einer Messe im Dom zu Münster mit Kardinal Graf von Galen ministriert. Der Kardinal habe gesagt: „Das große Paderborn dient dem kleinen Münster.“ Worauf Siebers nach Nordhues Erinnerung geantwortet habe: „Aber einem großen Bischof!“