Wenn Kinder unter Gewalt leiden

Chefarzt Dr. Friedrich Ebinger und Oberärztin Dr. Christine Dolle (Foto: Flüter)

Die einzige Kinderschutzambulanz im Hochstift arbeitet in der Paderborner Klinik St. Louise. Hier werden Kinder und Jugendliche untersucht und behandelt, die Opfer von Gewalt und ­Vernachlässigung sind. Die Zahl der Fälle steigt und ist schon bei Neugeborenen hoch. 

Paderborn. Die Wahrheit wird oft durch Zufall bekannt. Bei der Einlieferung eines Kindes in die Kinderklinik St. Louise werden die Ärzte und Pflegekräfte stutzig. Sie stellen Hämatome oder Knochenbrüche, aber auch Zeichen von Vernachlässigung und Stress fest. „Ich bin schon lange im Beruf, aber viele Fälle schockieren mich noch immer“, sagt Dr. Christine Dolle, Oberärztin in der St. Louise Kinder- und Frauenklinik. Die zertifizierte Kinderschutzmedizinerin leitet die Medizinische Kinderschutzambulanz der Klinik. 

Jedes zehnte Neugeborene ist von Gewalt betroffen

Als die St. Louise Klinik die Kinderschutzambulanz 2011 einrichtete, handelte es sich um die erste Einrichtung dieser Art in Nordrhein-Westfalen. Der neue Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, PD Dr. med. Friedrich Ebinger, hatte das Konzept aus Heidelberg mitgebracht. Schon immer hatte es in St. Louise Fälle gegeben, die auf Gewalt, Verwahrlosung oder sexualisierten Missbrauch hinwiesen. Die Mediziner und Pflegekräfte reagierten darauf, doch die zusätzliche Diagnostik und Betreuung mussten in den ohnehin zeitlich engen Alltag auf den Stationen integriert werden. 

Mit der Kinderschutzambulanz gibt es seit 12 Jahren eine Anlaufstelle im Haus mit eigenem Fachpersonal und eigenen Räumlichkeiten. Auch in den anderen Stationen der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin arbeiten weiter speziell ausgebildete Pflegekräfte und Mediziner. Sie melden auffällige Befunde an die Kinderschutzambulanz weiter. 

„Als medizinische Kinderschutzambulanz stehen unsere Türen immer offen, wenn du unter Gewalt leidest“, heißt es in einem Flyer, den die St. Louise Klinik für Kinder und Jugendliche veröffentlicht hat. „Es bedeutet eine große Überwindung, Hilfe in Anspruch zu nehmen“, sagt Christine Dolle. Scham spielt eine wichtige Rolle, auch die Verstörung und Traumatisierung nach dem Geschehenen. Die weitaus meisten Verletzungen weisen auf Übergriffe im familiären Rahmen hin. Welches Kind will schon seine eigenen Eltern beschuldigen? 

So tragen die Kinder die Schmerzen und die Angst allein mit sich herum. Bis es zu einem Vorfall kommt, der medizinische Behandlung notwendig macht. Es kann auch sein, dass in den Kitas und Schulen auffällt, wenn Kinder sich merkwürdig verhalten und Häma­tome oder andere Symptome aufweisen. Schon Neugeborene sind bedroht. Jedes zehnte neugeborene Kind wird Opfer von Gewalt. Die Fallzahlen steigen. 2022 verzeichnete die Kinderschutzambulanz insgesamt 152 Fälle. Christine Dolle geht davon aus, dass es in diesem Jahr mehr werden. 

Inobhutnahme der Kinder als ultimative Maßnahme

Das Verfahren zur Sicherung der Kinder ist kompliziert. Es zählt vor allem das Kindeswohl, aber niemand will Eltern pauschal verdächtigen. Im Kreis Paderborn ist ein Netzwerk entstanden, um eine begründete Abwägung zwischen Kindeswohl und Integrität der Familien zu treffen. Die Federführung haben die Jugendämter in Stadt und Kreis. Wenn die Situation eine schnelle Reaktion fordert, können die Ämter eine Inobhutnahme als ultimative Maßnahme anordnen Das Kind wird noch am selben Tag – zuerst zeitweise – von einer anderen Familie aufgenommen. Es kommt auch vor, dass die Kinder einige Nächte in der Klinik St. Louise verbringen.  

Kinderschutzambulanzen habe in dem Netzwerk eine Doppelaufgabe. Sie stellen bei Klinikaufenthalten fest, dass eine verdächtige Diagnose vorliegt, und melden diese weiter. Oder sie untersuchen die Kinder und Jugendlichen im Auftrag des Jugendamtes oder wenn sie von der Polizei eingeliefert werden. 

Das Team der Kinderschutzambulanz besteht aus einem multiprofessionellen Team von Ärzten, Sozialarbeitern, Fachpflegekräften und Psychologen. Sie arbeiten bei den Untersuchungen zusammen, um Anzeichen körperlicher, seelischer und sexualisierter Gewalt oder Hinweise auf Vernachlässigung festzustellen. Alle Ergebnisse, Spuren und Beweismittel werden sorgsam protokolliert, sie könnten vor Gericht wichtig werden. 

Ein Viertel sind Verdachtsfälle wegen sexueller Gewalt

Besonders schlimm seien „furchtbare Verletzungen“ wie ein Beinbruch bei einem Kleinkind, gesteht Oberärztin Christine Dolle. Ein Schütteltrauma kann lebenslange Folgen für das Kind haben. Bei einem Viertel der Untersuchungen handelt es sich um Verdachtsfälle wegen sexualisierter Gewalt, bei fünf Prozent um die Folgen vermuteter häuslicher Gewalt. 

Christine Dolle hat es erlebt, dass die Eltern einen Beinbruch des Neugeborenen auf einen Sturz vom Wickeltisch zurückführen. „Dabei können sich Babys nicht so weit bewegen, dass sie an den Rand der Wickelunterlage gelangen könnten.“ Dennoch ist die Diagnose manchmal nicht so eindeutig, dass die Kinder in Obhut genommen werden können. Es ist auch schon geschehen, dass ein Kind, bei dem ein Verdacht auf Schütteltrauma bestand, wieder in die Familie zurückgegeben werden musste. Wenig später kam es zu dem nächsten Vorfall, bei dem das Kleinkind starb. 

Der beste Schutz ist Vorbeugung

Der beste Schutz vor extremen Fällen wie diesem ist Vorbeugung. Das Netz von Beratungsstellen und sozialen Einrichtungen kümmert sich um gefährdete Familien. Auch die Kinderschutzambulanz bietet präventive Arbeit mit hochbelasteten Familien an, etwa wenn die Eltern drogenkrank oder psychisch erkrankt sind. Betroffene Eltern spricht die Kinderschutzambulanz in einem Flyer direkt an. Sie werden gebeten, Kontakt aufzunehmen, „wenn sie in der Erziehung ihres Kindes nicht mehr weiterwissen“, wenn sie ihre Kinder „nicht mehr ausreichend versorgen können“ oder wenn die Eltern vermuten, dass ihr Kind Gewalt ausgesetzt ist. 

Immer geht es um Vertrauen. Bei den Kindern, die sich schämen, über das Vorgefallene zu sprechen. Bei den Eltern, die ihrer Verantwortung vielleicht nicht gerecht wurden. Vertrauen braucht Zeit. Zeit kostet im Klinikalltag Geld. So hängen der respektvolle Umgang mit Kindern und Jugendlichen, denen Gewalt angetan wurde, und ihre verantwortungsvolle Betreuung mit der Finanzierung zusammen. Doch die ist immer noch nicht ausreichend. Die Kinderschutzambulanz arbeitet unter räumlich beengten Verhältnissen und könnte mehr Personal gebrauchen. Eine Verbesserung ist konkret noch nicht absehbar. 

Finanziell ein Zuschussprojekt

Finanziell ist die Kinderschutzambulanz auch nach 12 Jahren immer noch ein Zuschussprojekt. Ohne die Bereitschaft des katholischen Trägers St. Vincenz-Kliniken, der die Kinderschutzambulanzen durch Querfinanzierungen aus dem Haushalt sichert, wäre die Ambulanz nicht möglich. Es gibt kaum Möglichkeiten, die Diagnose und Beratung abzurechnen. Das verhindert auch den weiteren Ausbau der Ambulanz. Dabei wäre eine Vergrößerung notwendig, weil die Fallzahlen wachsen und die Dunkelziffern hoch sind.

„Kinderschutzambulanzen sind ein Signal nach außen, für die Öffentlichkeit“, sagt Chef­arzt Friedrich Ebinger. Eine Botschaft, dass etwas nicht in Ordnung ist. Dass die Gesellschaft diesem Missstand mehr Aufmerksamkeit widmen sollte. Vor allem sind Kinderschutzambulanzen eine Erinnerung daran, dass nichts so wichtig ist wie das Wohl der Kinder und Jugendlichen.  

Karl-Martin Flüter

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