Woche für das Leben – Für eine Kultur der Zärtlichkeit

Die Referenten und Veranstalter der Informationsveranstaltung in Paderborn (v. l.): Werner Sosna, ­Johannes Pantel, Christoph Menz und Birgit Hasenbein. (Foto: Flüter)

Vom 30. April bis zum 7. Mai findet in Deutschland die Woche für das Leben statt. Das Leitthema lautet „Mittendrin. Leben mit Demenz“. Gefordert wird ein anderer gesellschaft­licher Umgang mit Menschen, die an dieser immer noch nicht therapierbaren Krankheit leiden.

Erzbistum Paderborn. Das Haus St. Antonius in Paderborn, eine Caritas-­Einrichtung, ist auf die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz spezialisiert. Zum Haus gehört neben den Wohnbereichen auch ein Beratungszentrum, das eine „Demenzsprechstunde“, Workshops, Vorträge sowie Gesprächsgruppen für Angehörige von Menschen mit Demenz anbietet. Weitere Zielgruppen des Beratungszentrums sind Vereine, Unternehmen und öffentliche Institutionen.

Die Information und Schulung für den Umgang mit Menschen ist ein zentrales Anliegen der Paderborner Caritas. Das Ziel ist die Inklusion der demenziell Erkrankten, nicht ihre Unterbringung in Heimen oder ihre Isolierung in den eigenen Wohnungen. „Wir müssen es schaffen, Menschen mit Demenz nicht auszugrenzen, sondern sie in der Mitte der Gesellschaft zu halten“, sagt Birgit Hasenbein, Leitung von St. Antonius.

„Mittendrin. Leben mit Demenz“

Die gerontopsychiatrische Familienberaterin war Anfang ­April Referentin einer vorbereitenden Informationsveranstaltung für die Woche für das Leben 2022, die sich vom 30. ­April bis zum 7. Mai in vielen Veranstaltungen dem Thema „Demenz“ widmen wird. Die Überzeugung von Birgit Hasenbein, Demenz gehe uns alle an, wird von den Machern der bundesweiten Aktionswoche geteilt. „Mittendrin. Leben mit Demenz“ steht als Titel auf den Flyern und Plakaten, die für die Woche werben.

Die gesellschaftliche Realität ist jedoch oft anders, als sie in Schwerpunkteinrichtungen wie St. Antonius und in vielen Altenheimen gelebt wird. „Demenz“ ist immer noch ein Begriff, der ein gesellschaftliches Tabu bezeichnet. Er dient als Schreckenswort für eine Krankheit, vor der es wenig Schutz gibt. Niemand möchte an Demenz erkranken. Wer an einer Demenz leidet, muss nicht nur mit den körperlichen und psychischen Folgen rechnen, sondern auch mit Stigmatisierung. Menschen mit Demenz gehören in der öffentlichen Wahrnehmung irgendwie „nicht mehr dazu“.

Jede und jeder kann an Demenz erkranken

Dabei kann jede und jeder an Demenz erkranken. Die Angst vor diesem Schicksal, das mit zunehmendem Alter immer wahrscheinlicher wird, führt zu einer breiten gesellschaftlichen Verdrängung. Von Demenz redet man nicht und wenn doch, dann im abwehrenden, im besten Fall mitleidigen Tonfall. Da­ran ändert auch die zunehmende Anzahl von Filmen und Büchern über das Thema wenig.

Demenz verändert die Persönlichkeit der Erkrankten. Ihre Individualität scheint sich aufzulösen. Damit gehen auch die soziale Kompetenz und die Selbstständigkeit verloren. Menschen, die offenbar nicht mehr wissen, wer sie sind, und nicht mehr selbstständig allein leben können, die nicht mehr kommunizieren können, sind in Gefahr, dass ihnen die Menschenwürde abgesprochen wird.

Ökumenische Aktionswoche

Diese Gefahr greift die Woche für das Leben 2022 auf. Die ökumenische Aktionswoche sucht Antworten in der christlichen Ethik. Dr. Verena Wetzstein, eine der Referentinnen der beiden Informationsveranstaltungen für die Woche für das Leben im Erzbistum Paderborn, formuliert die zentralen Fragen: „Sind Menschen mit Demenz noch identisch mit den Personen vor der Diagnose? Sind Sie überhaupt noch Personen? Und was schulden wir Ihnen?“

Die Antwort liegt in der zen­tralen biblischen Botschaft von der Ebenbildlichkeit des Menschen, antworten Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, und Präses Dr. Annette Kurschus, Vorsitzende des Rates der EKD, in ihrem Geleitwort zur Woche für das Leben. Weil jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist, komme jedem Menschen eine personale Würde zu.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“

Dieses zutiefst christliche Verständnis betont das Grundgesetz in seinem ersten Artikel. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es dort. Da­ran müssen wir unser Handeln messen, betont Wetzstein, die als Studienleiterin an der Ka­tholischen Akademie Freiburg arbeitet. Eine christliche Ethik gehe davon aus, „dass alle Menschen in allen Phasen ihres Lebens Personen sind und unter dem Schutz der Menschenwürde stehen“ – auch die Menschen mit Demenz.

Was heißt das für uns alle, für das Zusammenleben in unseren Quartieren und unseren öffentlichen Umgang mit Menschen mit Demenz? Es geht nicht ohne einen anderen Blick auf das (Zusammen-)Leben und einen weitreichenden Kulturwechsel. Da­rauf verwies Dr. Werner Sosna, der zusammen mit Christoph Menz vom Caritasverband für das Erzbistum Paderborn die Woche für das Leben vorbereitet.

Sosna konnte sich auf ein aktuelles Papstwort berufen. Eine neue „Sensibilität der Seele“ hatte Franziskus in einem Aufsatz über das Alter eingefordert. Es gehe dem Papst um Selbstverantwortung und die Sorge für andere, sagte Werner Sosna. In einer Gesellschaft wie der heutigen, „die Sensibilität vor allem um des Vergnügens willens ausübt“, wie der Papst kritisiert, sei ein „Sensibilitätsverlust“ zu beobachten. Die „Aufmerksamkeit für Schwache“ gehe verloren. Notwendig sei eine „Kultur der Zärtlichkeit“, die für den „Geist der menschlichen Geschwisterlichkeit“ stehe und von der „menschlichen Sensibilität für andere“ geprägt werde.

Das „Person-Sein“ des Erkrankten annehmen

Die „Kultur der Zärtlichkeit“ und die „Sensibilität der Seele“ wird in der Welt der Pflege bereits konzeptionell umgesetzt. In vielen Altenheimen und stationären Einrichtungen bestimmt schon seit Jahren ein „personenzentrierter Ansatz“ die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz.

Auch das Haus St. Antonius der Einrichtung, das Birgit Hasenbein leitet, arbeitet so. Es gehe darum, das „Person-­Sein“ des Erkrankten anzunehmen und Bindung an andere zu ermöglichen, vor allem aber die Ressourcen der Betroffenen zu nutzen, betont Birgit Hasenbein. Weil Menschen mit einer Demenz sehr wohl zwischen einem aufgesetzten und einem authentischen Verhalten zu unterscheiden wissen, sind Spontaneität, Emotionalität und Aufrichtigkeit im Umgang miteinander wichtig.

„Es gibt keine Patentrezepte“, räumt Birgit Hasenbein ein, wenn sie über die Betreuung von Menschen mit Demenz spricht. Immer aber sei das Verhalten der Erkrankten interpretierbar als Bedürfnis und damit als Aufgabe der Pflegenden. Man kann den Umgang mit Menschen mit Demenz lernen. In der Schwerpunkteinrichtung St. Antonius sind das Beratungszentrum und die Seminare und Workshops für pflegende Angehörige deshalb so wichtig.

Pandemie hat die Betreuung von Menschen mit Demenz eingeschränkt

Die Pandemie hat die beziehungsintensive Betreuung von Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen nachhaltig eingeschränkt. Die Isolation der Menschen in den stationären Einrichtungen habe einen „enormen Kollateralschaden“ verursacht, sagte Dr. Johannes Pantel in Paderborn.

Pantel, Professor für Altersmedizin an der Goethe-­Universität in Frankfurt a. M., hat zusammen mit dem ZDF ein Experiment durchgeführt, bei dem Menschen mit Demenz zusammen in einem Chor sangen und dabei von Kameras begleitet wurden. Physiologische und psychologische Untersuchungen bewiesen die „multimodale Wirkung“ des gemeinschaftlichen Musizierens. Der Cortisonspiegel – ein Stressmarker – sank signifikant. Das emotionale Wohlbefinden stieg und insgesamt habe sich bei den untersuchten demenziell Erkrankten „die Lebensqualität stabilisiert“, berichtete Pantel in Paderborn.

Woche für das Leben – Birgit Hasenbein

Birgit Hasenbein kann die positiven Ergebnisse bestätigen – mit einem großen „Aber“. Der vom ZDF gefilmte Chor sei ein Ereignis gewesen, bei dem Menschen mit Demenz und deren Angehörige unter sich gewesen seien, sagt die gerontopsychiatrische Familientherapeutin: „Viel besser wäre es, wenn Menschen mit Demenz in ganz normalen Chören mitsingen würden.“ Das würde allerdings viel Rücksicht einfordern und einen anderen, weniger leistungsorientierten Ansatz in der Chorarbeit voraussetzen. Im Alltag ist das schwer vorstellbar. Der Papst jedoch wäre zufrieden, denn ein solcher Chor würde tatsächlich für die von ihm geforderte „Kultur der Zärtlichkeit“ stehen.

Karl-Martin Flüter

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