Wozu sind Sie da, Frau Anna?

Anna Ulrich (93) lebt und arbeitet seit 1951 auf der Hegge, einem christlichen Bildungswerk in der Nähe von Willebadessen. Sie ist eine der Heggefrauen, die die Einrichtung tragen. Das Motto des Hauses lautet: „Bildung macht mündig“.

Anna Ulrich (93) lebt und arbeitet seit 1951 auf der Hegge, einem christlichen Bildungswerk in der Nähe von Willebadessen. Sie ist eine der Heggefrauen, die die Einrichtung tragen. Das Motto des Hauses lautet: „Bildung macht mündig“.

Geprägt hat mich neben der Familie vor allem die Kirchengemeinde. Denn wir lebten in Halle an der Saale in zweifacher Hinsicht in einer Diaspora: zum einen als christliche Familie in einer vom Nationalsozialismus verseuchten Umgebung, zum anderen als katholische Kinder in einer protestantischen Stadt. Das weckte in uns schon früh einen Widerspruchsgeist. Wichtig wurde für uns der Kontakt zu den Jugendgruppen in der Gemeinde, wobei uns unser damaliger Jugendkaplan, Hugo Aufderbeck, stützte und führte und eine wichtige Rolle für uns Jugendliche spielte.

Als der Krieg endete, war ich 17 Jahre alt und ging noch zur Schule. Nun lebten wir in der Sowjet­zone. Wiederum eine weltanschauliche Diaspora. Im Frühjahr 1948 wurde mein Zwillingsbruder vom NKWD – der russischen Besatzungsmacht – gefangen genommen. Er war – nach damaligem Sprachgebrauch – „verschwunden“. Aus Vorsicht sprach man darüber nicht. Meine Eltern wollten mich schützen und schickten mich „in den Westen“. Ich lief bei Nacht über die Grenze von Thüringen nach Bayern und war von nun an auf mich allein gestellt. Per „Anhalter“, nur mit einem kleinen Rucksack und ohne Wintermantel streifte ich durch Thüringen bis nach Westfalen und fand die erste Aufnahme auf der Hegge! Die kannte ich schon von einem Führerinnenkurs, den ich im Sommer 1947 besucht hatte (nach illegalen Grenzübertritten hin und zurück) und wo inzwischen meine ältere Schwester Therese als Novizin lebte.

Anna Ulrich: „So oft ich konnte, besuchte ich die Hegge“

Ein halbes Jahr blieb ich als „Flüchtling“ auf der Hegge und arbeitete im Garten und auf dem Feld. Inzwischen war mein Bruder entlassen worden und studierte in Paderborn Theologie, weil er im Knast beschlossen hatte, Priester zu werden. Im Herbst 1948 bewarb ich mich an der Pädagogischen Akademie in Paderborn, wo ich zwei Jahre später das Lehrerexamen ablegte. So oft ich konnte, besuchte ich die Hegge – bis ich mich bei der Oberin Lydia Glanz meldete. Sie war eine tatkräftige, entschlussfreudige Frau und machte sofort Nägel mit Köpfen: „Im Herbst kommst du zu uns!“

Nun begann die eigentliche Probe. Meine Stimmung wechselte von Vorfreude zu Zweifel – hin und her. Je näher der verabredete Termin rückte, desto mehr packte mich die Angst: Hast du dich richtig entschieden? Hattest du nicht immer andere Pläne (heiraten und mindestens fünf Kinder bekommen!)? Ich überlegte ernsthaft abzusagen. Aber auch dazu fehlte der Mut. Und ich hatte bereits Brücken hinter mir abgerissen. Also packte ich meine Habe in zwei Koffer – mehr hatte ich nicht! – und fuhr zur Hegge. Ich kam einen Tag vor den Jahresexerzitien der Heggefrauen an und wurde sofort hineingenommen in das volle Konventsleben. 

Vom ersten Tag an war ich glücklich und wusste: Hier gehörst du hin! Und daran hat sich bis heute (nach 70 Jahren) nichts geändert.

Anna Ulrich (93) lebt und arbeitet seit 1951 auf der Hegge, einem christlichen Bildungswerk in der Nähe von Willebadessen. Sie ist eine der Heggefrauen, die die Einrichtung tragen. Das Motto des Hauses lautet: „Bildung macht mündig“.

Zur Person 

Anna Ulrich (93) lebt und arbeitet seit 1951 auf der Hegge, einem christlichen Bildungswerk in der Nähe von Willebadessen. Sie ist eine der Heggefrauen, die die Einrichtung tragen. Das Motto des Hauses lautet: „Bildung macht mündig“. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte Anna Ulrich eine sorglose Kindheit. Ihr ältester Bruder wurde bald eingezogen und 1944 an der Ostfront vermisst gemeldet. Die Mutter hat bis zu ihrem Tod auf seine Rückkehr gehofft.

Aufgezeichnet und fotografiert von Claudia Auffenberg

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Unsere Reihe Menschen im Erzbistum

Wozu bist du da, Kirche von Paderborn? Diese Frage stellte der Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker dem Zukunftsbild voran, auf dessen Basis das Erzbistum entwickelt wird. Wozu bist du da? Diese Frage kann sich auch jeder Einzelne stellen. Denn die Grundannahme des Zukunftsbildes ist eine biblische, dass nämlich jeder Mensch berufen ist, dass jede und jeder das eigene Leben als von Gott angenommen betrachten darf, dass es einen Sinn dieses Lebens gibt. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, die Frage für sich zu beantworten. Wir fragen nach, heute bei: Anna Ulrich

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