04.10.2019

„Wir brauchen diese Offenheit“

„Wir brauchen diese Offenheit“

Paderborn. Das Bonifatiuswerk Paderborn feiert sein 170-jähirges Bestehen, Monsignore Georg Austen ist seit 2008 General­sekretär und Hauptgeschäftsführer des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken sowie Geschäftsführer des Diaspora-­Kommissariates der deutschen Bischöfe. Karl-Martin Flüter sprach mit ihm.

Monsignore Austen, Sie sprechen von einer zweifachen Dias­pora …

Wir Christen befinden uns in Deutschland mittlerweile in einer Minderheitensituation. In Ostdeutschland gehören 70 bis 80 Prozent keiner Konfession mehr an. Das ist die Diaspora, die wir kennen. Wir erleben aber auch eine Diaspora­situation in den traditionell konfessionell geprägten Regionen, in denen immer weniger Menschen am kirchlichen Leben teilnehmen. Das ist eine Art „Glaubensdiaspora“, in der sich Menschen, die heute ihren Glauben leben, oft alleine fühlen. Das sind die zwei unterschiedlichen Gesichter der Diaspora heute.

Wie kann es Kirche schaffen, mit der Mehrzahl der kirchenfremden Menschen und An­dersdenkenden ins Gespräch zu kommen?

Wir müssen uns aufmachen, damit wir sehen, wie andersgläubige und nicht gläubige Menschen leben und denken – und nach dem Gemeinsamen suchen. Wie gehen wir damit um, wenn wir hören: Ich gehöre keiner Kirche an, ich bin nicht gläubig, mir fehlt aber auch nichts. Ich habe meine eigenen Riten, meine eigenen Werte. Es ist unsere Aufgabe, nach gemeinsamen Grundlagen des Zusammenlebens zu suchen, damit wir miteinander in Berührung kommen.

Es geht auch darum, anderen Menschen eine Beziehung zum Glauben als Möglichkeit zu eröffnen. Dafür ist es wichtig, dass ich gut und sicher über meinen Glauben Auskunft geben kann. Es ist auch wichtig, den Glauben glaubhaft vorzuleben, beispielsweise anderen Menschen karitativ zur Seite zu stehen. In unseren karitativ-sozialen Projekten wird das Evangelium anders, intensiver gelebt.

Das setzt eine Offenheit für andere Lebenseinstellungen voraus. Das Bonifatiuswerk arbeitet beispielsweise mit Künstlern wie dem Rockstar Udo Lindenberg zusammen.

Ich glaube, dass wir diese Offenheit brauchen. Wir leben zusammen. Es macht keinen Sinn, sich abzugrenzen oder auszugrenzen. Wir sollten als Kirche nicht nur Gastgeber sein. Wir sind oft auch Gäste. Es geht darum, was wir von anderen lernen können. Wo haben wir gemeinsame Anliegen, beispielsweise in Fragen der Schöpfung, in Fragen der Gerechtigkeit, bei Fragen der Menschenwürde? Es ist gut, in einen Austausch zu kommen – und da nicht nur in Deutschland, sondern im Rahmen der Weltkirche.

In Skandinavien und im Baltikum, dort wo das Bonifatiuswerk tätig ist, wachsen die Kirchen. Woran liegt es, dass dort die Zahl der Kirchenmitglieder zunimmt?

Ja, wir erleben in diesen Ländern viel Optimismus und eine Aufbruchsituation. Ich würde das aber nicht als Erfolgsmodell bezeichnen. Es ist ein „Notwendigkeitsmodell“, das aus einer schwierigen Situation heraus entstanden ist. Die Kirche ist dort klein und materiell arm, aber sie hat viele Migranten und Flüchtlinge aufgenommen. In diesen völlig säkularen Gesellschaften konvertieren zunehmend Menschen zur Kirche.

Was wir von diesen Ländern lernen können, ist Menschen nicht nur als Befremdung, sondern als Bereicherung zu sehen, auch wenn sie aus anderen Nationen und anderen Kulturen kommen. Man muss es erlebt haben, wie 80, 90 Nationen in einem Gottesdienst zusammenkommen. Wenn das so ist, erlebt man die Weltkirche Tag für Tag vor der eigenen Haustür.

Man kann dort Gastfreundschaft lernen. Nach dem Gottesdienst gehört das Kirchencafé einfach dazu. Die Gemeinde, deren Mitglieder manchmal zwei bis drei Stunden Fahrzeit zum Gottesdienst und nach Hause haben, bleibt gerne zusammen.

Das zeigt uns: Auch eine materiell arme Kirche kann etwas zur Gesellschaft beitragen. Kann Menschen eine Beheimatung im Glauben ermöglichen. Auf uns zurückgewendet hier in Deutschland heißt das: Wie begrüßen wir Menschen in unseren Gemeinden, wie nehmen wir sie auf? Gelingt es uns auch in der Glaubensbildung, anderen die Inhalte unseres Glaubens nahe zu bringen?

In den nordeuropäischen Ländern sind die Gemeinden klein und die Entfernungen groß. Auch in unseren neuen pastoralen Räumen wird die Infrastruktur dünner. Was lehrt uns die Kirche in der Diaspora?

Es geht darum, Dinge mitei­nander zu tun. Wenn Menschen in größeren geografischen und sozialen Räumen Glaubensgemeinschaft suchen, ist es wichtig, dass es Orte gibt, an denen sie diese Glaubensgemeinschaft erfahren können. Wo können wir in pastoralen Räumen Orte finden, an denen wir zusammen die Rituale feiern, die uns an unseren Lebensknotenpunkten begleiten – wie Geburt oder Trauer?

Das setzt Offenheit für Änderungen und den Wandel vo­raus.

Ich habe in Island erlebt, dass der Erstkommunionunterricht über Skype stattfinden muss, also über das Internet und am Computerbildschirm. Da muss man einfach auch mal anders denken. Wichtig ist es, die Beziehung zu den Menschen zu halten und auszubauen.

Viele existenzielle Fragen der Kirche erlebt die Diaspora früher und intensiver als die Gesamtkirche, etwa den Vertrauensverlust der Kirche oder den zahlenmäßigen Rückgang der Kirchenmitglieder. Wie beurteilen Sie unter diesem Eindruck die Zukunft der Kirche?

Ich erlebe in der Diaspora bei allen Problemen die Stärken der Kirche und des Glaubenslebens. Mich beeindruckt immer wieder das Gottvertrauen der Menschen, die oftmals sehr schwierige Wege hinter sich haben. In unseren Diasporagemeinden ist die Begegnung mit Gott für die Menschen sehr wichtig.

Wie bei uns die Landschaft der Kirche in Zukunft aussehen wird, kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn das Gottvertrauen da ist und die Wertschätzung im Miteinander, wenn wir bereit sind, Wege zusammen mit anderen zu gehen – auch wenn diese Wege anders sind, als wir gedacht haben –, dann haben wir eine Zukunft.

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