03.04.2019

Die Entblößung

Kreuzwegstationen aus dem Erzbistum werden in der Fastenzeit an dieser Stelle vorgestellt. Die fünfte Folge in der Reihe zeigt die zehnte Station des Kreuzweges aus der St.-Peter-und-Paul-Kirche in Siegen.

von Claudia Auffenberg

Nicht, dass es im Kreuzweg wirklich angenehme Stationen gibt, aber diese ist wohl die unerträglichste – und die aktuellste. „Jesus wird seiner Kleider beraubt“ heißt sie. Sagen wir, wie es ist: Sie ziehen ihn aus. Er wird öffentlich und nackt sterben. Man wird alles sehen. Alles. Sicher, wir leben in einer übersexualisierten Welt, Bilder nackter Menschen gibt es allüberall. Aber diese Situation ist etwas anderes. Dies ist eine andere Art von Nacktheit, sie hat mit FKK nichts zu tun. Dies ist eine Entblößung. Er wird bloßgestellt. Es gibt keinen Schutz mehr vor den schamlosen Blicken der Gaffer. Er wird seiner Kleider und damit seiner Würde beraubt.

Fast ist man froh, dass es damals noch keine Handys gab und kein Facebook und kein Twitter. Aber nur fast. Denn heute gibt es das und es gibt solche Bilder im Netz. Der Mann, der in Christchurch 50 Menschen erschoss, hat seine eigene Tat live im Internet übertragen. 1,5 Millionen Videos davon hat Facebook nach eigenen Angaben innerhalb von 24 Stunden gelöscht. Das heißt: 1,5 Millionen Menschen auf dieser Welt haben sich das Video angesehen, haben 17 Minuten lang zugeschaut, wie einer rumläuft und Menschen erschießt. Und sie haben dieses Video weitergegeben. Warum?

Wie gestaltet man einen Kreuzweg für eine Welt, die alles schon gesehen hat? Der keine Brutalität mehr fremd ist? Der Siegener Künstler Gereon Heil macht es durch Fragmentierung und Auslassung. Seit 2004 hängt sein Kreuzweg in der Siegener St.-Peter-und-Paul-Kirche. Das Werk heißt „Kreuz weg“. Das Kreuz ist an allen Stationen ausgespart, aber es bleibt dem Betrachter nicht erspart. Es wird zu einer Öffnung, vor dem sich das Drama abspielt. Alle Szenen sind jeweils äußerst reduziert dargestellt, nur angedeutet. Und in fast allen Stationen ist nur Jesus zu sehen, so auch bei der zehnten Station. Niemand ist da, der ihm die Kleider vom Leib reißt. Die Täter und Mittäter, die Mitläufer und Be­fehls­ausführer sind nicht zu sehen. Nur er, das Opfer. Und wir sehen sein Gesicht. Mehr nicht. Das reicht auch. So bleibt uns nichts anderes übrig, als das zu tun, was wirklich notwendig ist und vielleicht am schwersten: dem Opfer ins Gesicht, in die Augen zu schauen. Das geschieht viel zu selten. Wir erleben es gerade – auch in der Kirche.

Das Foto finden Sie in der Printausgabe des Dom Nr. 14/2019 auf S. 18

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