Warum Gott Charakter hat!
Man steckt fest in der eigenen Familie, in dem, was vorhergehende Generationen getan haben– im Guten wie im Schlechten. Foto: ClipDealer
What about verse 7? Ist Ihnen aufgefallen, dass dieser Vers in der Lesung aus dem Alten Testament fehlt? Es passiert gar nicht so selten, dass in der Liturgie Lesungs- und Evangeliumstexte nicht in ihrer vollständigen Fassung gelesen werden. Das ist oftmals bedauerlich– insbesondere wenn JHWH etwas über sein Wesen preisgibt.
Von Simone & Mirko Wiedeking
„Der HERR ist der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue: [Und hier beginnt der ausgelassene Vers] Er bewahrt tausend Generationen Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, aber er spricht nicht einfach frei, er sucht die Schuld der Väter bei den Söhnen und Enkeln heim, bis zur dritten und vierten Generation.“ Gemeinsam bilden die beiden Verse in der Exoduserzählung die sogenannte Gnadenformel (siehe INFO), mit der Gott sich durch die Attribute Gnade und Strafe beschreibt. Gott spricht sie auf dem Berg Sinai direkt zu Mose und zeigt damit wiederholt seine tiefe Verbundenheit zum Volk Israel.
Gnade und Strafe
Auffallend ist dabei, dass im Vordergrund Gottes Wille zur Barmherzigkeit und Vergebung steht, und erst an zweiter Stelle die Bestrafung der nachfahrenden Generationen für die Schuld ihrer Vorfahren genannt wird. Gnade und Strafe fallen jedoch in JHWH zusammen, Gott erscheint hier barmherzig und konsequent zugleich. Er verkündet seine bleibende Zuwendung und ist dabei keineswegs gleichgültig. Die Gnadenformel charakterisiert das Wesen Gottes und füllt seine Selbstoffenbarung am brennenden Dornbusch als der „Ich-bin-der-ich-bin-da“ inhaltlich.
Eine weitere Vertiefung dessen, wer und wie Gott ist, wird uns mit dem Leseabschnitt aus dem Johannesevangelium geschenkt, der aus dem Schlussakt des Nachtgespräches zwischen Jesus und Nikodemus stammt (vgl. Joh3,1–21). Gottes Handeln gegenüber der Welt und den Menschen ist durch seine Liebe und die Hingabe seines Sohnes gekennzeichnet, gleichzeitig ist bei allem göttlichen Willen zur Rettung Gericht nicht ausgeschlossen. Aber auch hier gilt: Im Vordergrund stehen Rettung und Liebe, erst an zweiter Stelle das Gericht.
Gottes Wesen entdecken
Die Texte des heutigen Dreifaltigkeitssonntags laden uns dazu ein, Gottes Wesen zu entdecken und– soweit dies überhaupt möglich ist– sich diesem anzunähern. Für uns ist dabei häufig offensichtlicher: In Jesu Leben und Wirken ist Gott durchscheinend geworden. Aber eben auch das Alte Testament bietet uns durch die Gnadenformel einen Zugang.
Wozu also die Auslassung von Vers7? Auch heute kursiert oftmals noch die vermeintliche und falsche Überzeugung, dass der Gott des Alten Testamentes dem Gott des Neuen Testamentes gegenüberstehe; ohne diesen Vers verschwindet vor diesem Hintergrund der strafende Charakter Gottes, um künstlich eine bessere Beziehung und inhaltliche Nähe zum Evangeliumstext herzustellen. Auch wenn dies sicherlich ein ehrenhaftes Motiv ist, gilt vielmehr: Beide Texte zeigen einen je eigenen Zugang zu Gottes Wesen. Es ist und bleibt aber derselbe Gott mit seinem ganz eigenen Charakter, dem wir begegnen dürfen.
Info
Die Gnadenformel
Bei der Gnadenformel handelt es sich um den meist zitierten Text innerhalb des Alten Testamentes: An sieben Stellen wird sie vollständig zitiert, dazu lassen sich zahlreiche indirekte Anspielungen finden. Aus unserer heutigen Perspektive ist die Mithaftung der Nachkommen für die Schuld ihrer Väter sehr problematisch. Damit wird allerdings nicht behauptet, dass die folgenden Generationen ebenso schuldig sind. Wenn Gott die Schuld bis in die vierte Generation „heimsucht“, geht es vielmehr darum, ob ein Einzelner aus den Fehlern seiner Vorfahren aus eigenem Erleben gelernt hat oder nicht. In Dtn5,9–10 wird das Konzept einer Generationen übergreifenden Verantwortung schließlich umgedeutet: Die Schuld wird von Gott nur heimgesucht, „bei denen, die mich hassen“, also die selbst Schuld auf sich laden.