Mehr Mut, Bürger!
Foto: Gabi Eder / pixelio
Zu den heiß diskutierten Fragen der Causa Tönnies gehörte in den Tagen nach Libori auch die, warum das Publikum so reagiert hat, wie es reagiert hat: zunächst mit Raunen, denn mit einer Art Hoho-Applaus.
von Claudia Auffenberg
Warum hat niemand, auch keiner der Honoratioren wie Landrat, Bürgermeister oder Erzbischof, widersprochen, als der Unternehmer seine krude Erklärung über den vorgeblichen Zusammenhang von Klimapolitik, Regenwaldabholzung und Überbevölkerung in Afrika gegeben hat? Warum diese falsche Höflichkeit? (Vgl. Der DOM Nr. 32.) Das Phänomen taucht regelmäßig auch in den Medien auf: Es passiert etwas, und etliche gucken zu, fahren vorbei, niemand schreitet ein. Hinterher ist die Empörung groß, wie auch jetzt. Denn im Prinzip wissen alle, was man hätte tun sollen – jedenfalls nicht noch applaudieren.
Besuch bei Prof. Christoph Jacobs, er ist Pastoralpsychologe an der Theologischen Fakultät. Er war bei der Tönnies-Rede nicht dabei und will daher niemanden verurteilen, der in dieser Situation nicht reagiert hat. Denn die Sache ist hochkomplex. „Wir reden über Zivilcourage“, sagt Jacobs und hat einen ganzen Stapel wissenschaftlicher Arbeiten vor sich. Die Psychologie hat sich ausführlich mit dem Thema befasst, was zeigt: Es ist nicht nur kompliziert, sondern auch wichtig. Man muss sogar sagen: für eine freiheitliche Demokratie lebenswichtig. Erich Kästner hat einmal geschrieben: „An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert hat.“ Die italienische Schriftstellerin Franca Magnani hat es so formuliert: „Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.“
Aber was braucht es, um zivilcouragiert zu handeln? „Zivilcourage ist keine Eigenschaft“, sagt Jacobs, „jeder kann sie.“ Was Menschen oft am Eingreifen hindert, ist der sogenannte Bystander-Effekt: Je mehr Leute dabei sind, desto weniger fühlen sich persönlich verantwortlich. Daher braucht es ganz grundsätzlich die Bereitschaft jedes Einzelnen dazu, so zu agieren. Jede und jeder kann jetzt, nach der Lektüre dieses Artikels, für sich beschließen: „Wenn es zu einer Situation kommt, in der Zivilcourage nötig ist, werde ich handeln. Denn ich darf das. Und ich kann das!“ Und jede und jeder sollte das tatsächlich gleich tun. Denn wenn eine solche Situation eintritt, muss die Entscheidung stehen, dann muss sofort, vielleicht innerhalb von Sekunden, gehandelt werden. Weiterhin braucht es die Fähigkeit, eine Situation zu erkennen: Ist das ein Regelübertritt? Ist das Rassismus? Ist das ungerecht, unfair, böse? Diese Fähigkeit, meint Jacobs, müsste ein Katholik aufgrund seines Wertekanons eigentlich haben. Und er müsste auch über eine dritte Fähigkeit verfügen, die Zivilcourage erfordert: die Risikobereitschaft, Jacobs spricht sogar von „Opferbereitschaft“. Zivilcouragiert zu handeln kostet: mindestens Zeit, vielleicht Streit oder Ablehnung.
Ein Katholik müsste also, so Jacobs, willens und in der Lage sein, das Schweigen zu brechen und aufzubegehren, wenn Unrecht geschieht. Nun, so möchte man einwenden, das Schweigen, das Nichtaufbegehren, war doch lange des Katholiken höchste Pflicht. „Ja,“ sagt er, „das stimmt.“ Umso wichtiger ist, dass auch unsereins sich jetzt darum kümmert. Die Zeiten erfordern es. „Das Böse braucht das Schweigen der Mehrheit“, so hat es Kofi Anan, ehemaliger UNO-Generalsekretär, vor ein paar Jahren einmal gesagt.