23.06.2021

Geselligkeit geht nur analog

Tradition und Gemeinschaft: Die Schützenvereine haben in vielen Orten eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Dass die Feste auch in diesem Jahr ausfallen, ist nicht nur für die Vereine ein harter Brocken.

Paderborn. Die Perspektive ist nicht gut: Trotz der aktuellen Lockerungen dürften auch 2021 die meisten Schützenfeste coronabedingt abgesagt werden. Das zweite Jahr ohne Feste, Feiern, Paraden und neue Majestäten– das stellt nicht nur die Vereine auf eine harte Probe, auch für viele Ortschaften bricht ein zentrales Ereignis im Jahreslauf weg. Lukas Leineweber von der Universität Paderborn befasst sich im Forschungsprojekt „Tradition im Wandel“ mit dem Schützenwesen in Westfalen. Ein Thema dabei ist die Zukunftsperspektive der Schützenvereine. Im Interview spricht er unter anderem über die besonderen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie und über den Stellenwert des Dreiklangs „Glaube, Sitte, Heimat“.

Das Schützenwesen steht für Gemeinschaft. Welche Konsequenzen hat es für die Vereine, wenn Schützenfeste mehr oder weniger flächendeckend schon im zweiten Jahr ausfallen?

Die größte Herausforderung besteht derzeit darin, dass das für das Schützenwesen so wichtige Zusammenspiel von Gemeinschaft und Geselligkeit blockiert ist, und dass man genau dieses Zusammenspiel nicht gut hygienegerecht modifizieren oder digital simulieren kann. Geselligkeit braucht das physische Treffen– und das ist momentan besonders schwierig. 

Wie haben denn die Vereine die Krise bisher gemeistert? Welche Aktivitäten gab es?

Die Bandbreite der Aktionen ist sehr groß, vieles davon ähnelt jetzt natürlich dem, was schon im vergangenen Jahr auf die Beine gestellt worden ist. Insgesamt lässt sich nach meinen Erfahrungen der Trend ausmachen, dass der Gedanke der Solidarität und des Gemeinsinns mehr in den Vordergrund gerückt ist. Wenn Gemeinschaft und Geselligkeit in hergebrachter Form nicht möglich sind, fokussiert man sich mehr auf den Gemeinsinn. Es gab zum Beispiel Spenden- und Solidaritätsaktionen, man hat Impfzentren mit Infrastruktur und Personal unterstützt. Natürlich gab es auch Schützenfest-Alternativen: vom Schützenfest to go bis zum Schützenfest der Solidarität oder Drive-in-Angeboten. 

Kann das auch im zweiten Jahr funktionieren, denn jetzt ist das ja nichts Neues mehr?

Wir haben festgestellt, dass Kreativität und Euphorie im zweiten Jahr schon deutlich abgenommen haben, einiges hat sich einfach abgenutzt. Bei manchen Angeboten reichte die Teilnahmebereitschaft in der zweiten Saison längst nicht an die aus dem vergangenen Jahr in der ersten Phase der Pandemie heran. Der Effekt, Gemeinschaft über digitale Kanäle zu erzeugen, hat sich deutlich abgeschwächt; was natürlich nicht nur für das Schützenwesen zutrifft. Veranstaltungen oder Angebote funktionieren einfach dann besser, wenn sie neu sind und nicht einfach wiederholt werden. Auf lange Sicht– das zeigt sich ganz deutlich– kann man Geselligkeit und Gemeinschaft nicht simulieren oder virtuell modifizieren. Da braucht es dann einfach wieder das althergebrachte analoge Schützenfest. 

Die virtuelle Neugier scheint überhaupt ziemlich verflogen?

Ich denke, es hat sich mittlerweile so etwas wie eine virtuelle Müdigkeit breitgemacht. Auf der anderen Seite hat es in der Vorstandsarbeit sicherlich eine Art virtuelle oder digitale Revolution gegeben. Vor der Pandemie wäre es kaum denkbar gewesen, eine Vorstandssitzung als Videokonferenz durchzuführen. Das ist mittlerweile bei den meisten Vereinen Standard.  

Wird sich das für die Zukunft fest etablieren?

Für die Vorstandsarbeit bieten sich digital viele Chancen: Junge Menschen ziehen weg, weil sie studieren oder woanders arbeiten; gleichzeitig wollen sie sich zum Beispiel im Schützenverein weiter engagieren. Doch ein entfernter Wohnort ist fast immer ein Ausschlusskriterium für Vorstandsarbeit. Über Videokonferenzen gibt es nun die Chance, diese motivierten Mitglieder bei der Stange zu halten und ihre Expertise aktiv in den Verein einzubinden. Unsere Umfrage im vergangenen Herbst hat ergeben, dass rund 70 Prozent derjenigen, die im Schützenverein eine digitale Vorstandssitzung durchgeführt haben, zufrieden oder sehr zufrieden waren. 

Im ländlichen Raum haben Schützenfeste ja über den Verein hinaus eine gemeinschaftsstiftende Funktion für den gesamten Ort. Was bedeutet der Verzicht für die Bevölkerung?

Auch das haben wir im letzten Herbst abgefragt– da allerdings noch hypothetisch: Was wäre, wenn das Fest im zweiten Jahr auch ausfallen müsste? Da rechneten die Befragten mehrheitlich ganz klar mit negativen Konsequenzen für das Gemeinschaftsgefühl des gesamten Ortes. Gleichzeitig wurde in dieser Befragung aber auch deutlich, dass die Vereine ihrer intermediären Bedeutung, das heißt ihrer Scharnierfunktion zwischen Staat und Gesellschaft durchaus gerecht geworden sind. 

Woran machen Sie das fest?

Im Rahmen des Projektes haben wir 241 Grußworte, die im vergangenen Jahr zum eigentlichen Zeitpunkt der Schützenfeste in Regionalzeitungen erschienen sind, untersucht: In keinem einzigen dieser von Vorständen verfassten Texte wurden die staatlichen Maßnahmen zur Pandemie infrage gestellt. Im Gegenteil: Man hat sie verteidigt und dazu aufgerufen, sie zu befolgen. Die Vereine haben also dazu beigetragen, die Schutzmaßnahmen in der Bevölkerung zu verankern– ein wichtiger Punkt! 

Abgesehen von der akuten Corona-Lage: Glaube, Sitte, Heimat– welche Zukunft haben solche tradierten Werte in einer individualisierten Gesellschaft und globalisierten Welt überhaupt noch?

Innerhalb des Schützen-Milieus sind Geselligkeit und Gemeinschaft die zentralen Werte, die von allen geteilt werden, mit denen alle etwas anfangen können. Das sieht beim Dreiklang Glaube, Sitte, Heimat schon etwas anders aus: Während Heimat eine große Bedeutung zugeschrieben wird– gerade in den letzten Jahren wieder–, schwächen sich Sitte und Glaube immer weiter ab. Das machen unsere Umfragen sehr deutlich: Noch nicht einmal die Hälfte sagt, dass für sie der Glaube im persönlichen Leben wichtig ist. 

Dann stellt sich natürlich die Frage, ob dieser Dreiklang Glaube, Sitte, Heimat das Schützenwesen noch repräsentiert?

Wir stellen als Wissenschaftler die empirischen Daten zur Verfügung und interpretieren sie auch, aber wie die Verantwortlichen damit umgehen, ist eine andere Sache. Es wird sich zeigen, ob es zu Transformationsprozessen kommt, oder ob es Versuche geben wird, die Werte zeitgemäßer zu interpretieren. Solche Prozesse hat es in der Geschichte des Schützenwesens immer gegeben. 

Wie schätzen Sie das ein?

Es wird sich in dieser Beziehung einiges tun, in einigen Vereinen schneller, in anderen wird es länger dauern. Tradition wird immer durch Wandel bedingt und umgekehrt, das lässt sich nicht voneinander trennen. Beides ist wesentlich füreinander. In welcher Geschwindigkeit und mit welcher Ausprägung dieser Wandel geschieht, wird man sehen. 

Kann oder wird die Pandemie den Wandel beschleunigen?

Die Pandemie ist sicherlich in vielen Zusammenhängen ein Katalysator, etwa mit Blick auf digitalen Wandel. Doch auch darüber hinaus: Bei der Betrachtung der erwähnten Grußworte ist uns deutlich geworden, dass nicht nur die Tatsache beschrieben wurde, dass das Fest zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg ausgefallen ist. In den Vorständen wurde darüber nachgedacht, was das Schützenwesen eigentlich ausmacht: Das kommt in fast allen Grußworten zur Sprache. Und überall lautete die Antwort „Gemeinschaft“. 

Und genau die hat ja gefehlt!

In der Krise sind die drei zentralen Begriffe Gemeinschaft, Geselligkeit und Gemeinsinn noch einmal deutlich in den Mittelpunkt gerückt worden– sicherlich auch, weil zum Beispiel Geselligkeit und Gemeinschaft vermisst wurden! So hat die Corona-Krise dazu beigetragen, dass sich die Vereine gefragt haben, was wesentlich für sie ist. 

Wie profitieren die Vereine von dem Forschungsprojekt?

Die Teilhabe der Vereine war von Anfang an impliziert: Wir haben in mehreren Konferenzen den beteiligten Schützen beispielsweise unsere aktuellen Ergebnisse präsentiert und darüber mit ihnen diskutiert. Hinzu kommen Workshops für die Vereine, bei denen mithilfe eines entwickelten Leitfadens Zukunftskonzepte entwickelt werden. Dabei stellen wir die Methode zur Verfügung, und jeder Verein kann ganz nach seinen Bedingungen und Erfordernissen ein individuell angepasstes Konzept entwickeln. Die Resonanz dazu ist ausgesprochen positiv! Für uns als Wissenschaftler ist es sehr spannend, die dabei entstehenden Reflexionsprozesse zu begleiten.

Mit Jonas Leineweber sprach Andreas Wiedenhaus

Zur Person

Jonas Leineweber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kulturerbe der Uni Paderborn im Forschungsprojekt „Tradition im Wandel“. Im Promotionsprojekt des 27-jährigen Paderborners geht es um gesellschaftliche Rituale, Bräuche und Feste als Immaterielles Kulturerbe. Forschungsschwerpunkte sind Immaterielles Kulturerbe, gesellschaftliche Rituale, Bräuche und Feste, Vereine und zivilgesellschaftliches Engagement, Regional- und Kulturgeschichte.

Info

Das Forschungsprojekt „Tradition im Wandel“ der Universität Paderborn setzt sich mit dem Schützenwesen in Westfalen als Immaterielles Kulturerbe auseinander. Zielsetzung der Forschung ist es, historische Entwicklungslinien und Wandlungsprozesse aufzuzeigen, gegenwärtige, auf die Kulturform wirkende Risiken zu ermitteln sowie Zukunftsperspektiven und -konzepte in Zusammenarbeit mit den Vereinsakteuren zu erarbeiten. Im Rahmen des interdisziplinären Projektes wird untersucht, welche Bedeutung gesellschaftlichen Ritualen, Bräuchen und Festen in der heutigen Gesellschaft beigemessen wird, inwieweit Relevanz und Akzeptanz der tradierten Schützenvereinswerte in einer globalisierten, individualisierten und digitalisierten Gesellschaft einem Wandel unterliegen und in welchem Verhältnis Tradition und gesellschaftliche Transformation stehen. www.uni-paderborn.de

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