09.04.2020

„Wir können ohne eine Vorstellung vom Göttlichen nicht sein“

Das Verhältnis von Literatur und Religion gehört zu den Forschungsschwerpunkten von
Professor Braungart. Fotos: Wiedenhaus

Erzbistum. Fast jeder hat seinen Namen schon einmal gehört, aber ein konkretes Werk
wie bei Schiller oder Goethe fällt einem spontan nicht ein: Die Rede ist von Friedrich
Hölderlin. Wer ist dieser geheimnisvolle Dichter? Ein Gespräch über Poesie und Religion
mit dem Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Braungart an seinem Esstisch.

Herr Professor Braungart, 250 Jahre Hölderlin. Warum lohnt es heute, Hölderlins Gedichte zu lesen?

Frei heraus möchte ich sagen: Hölderlin ist der größte Lyriker der deutschen Literatur. Die Schönheit und der Reichtum seiner Sprache sind einzigartig; sein Anspruch, seine geschichtliche Zeit poetisch auszulegen. Es gibt keinen der bedeutenden Lyriker in der deutschen Literaturgeschichte, der sich nicht auch auf Hölderlin bezieht. Das geht über Rilke und Trakl, über Brecht und Paul Celan bis in die deutsche Gegenwartslyrik. Viele Dichter kennen Hölderlin im Detail. Lange hat man ihn missverstanden, insbesondere das Spätwerk, das nach 1800 entsteht. Im 19.Jahrhundert ist viel weggeworfen worden; wir wissen nicht genau, was, aber es ist ein großer Verlust. Die Gedichte ab 1788 bis etwa 1795/98 stellen noch keine großen Herausforderungen dar. Er fängt früh an zu dichten; dann aber, ab der Mitte seiner 20er-Jahre etwa, arbeitet er sich immer weiter an das Äußerste der Sprache heran, bis sie ihm fast zerbricht. Doch ist kein Selbstzweck. Niemand wagt sich so weit vor, auch Goethe nicht. In gerade einmal zehn Lebensjahren (ca. 1795 bis 1806) entsteht ein solches Werk. Damit sage ich überhaupt nicht, dass die Gedichte der Turm-Zeit nicht auch eine ganz eigene Schönheit hätten.

Kann man einen Dichter wie Hölderlin überhaupt verstehen? Was fasziniert uns heute?

Ja, Hölderlin setzt ungeheuer viel voraus, dieses schnelle Habenwollen eines Verständnisses geht bei seiner Lyrik nicht. Aber das berührt doch ein grundsätzliches Problem wirklicher Kunst: Wenn ich Menschen, die sich nicht dauernd mit Literatur beschäftigen, Lyrik erklären soll, nenne ich gerne ein lebensnahes Beispiel: Ich bin jetzt mit meiner Frau 40 Jahre zusammen, und 36 Jahre sind wir verheiratet, wir frühstücken immer gemeinsam und lesen die Zeitung. Wenn ich dann so über den Tisch schaue, jeden Morgen, denke ich: Wie nah bist du mir und wie fremd dabei zugleich, wie anders bist du.– Wir kennen doch alle dieses besitzergreifende Verstehenwollen durch unsere Eltern, als wir in der Pubertät waren. Bitte: Übertragt das doch mal auf die Literatur. Lasst das doch, was ihr für euch als Individuen beansprucht, auch für Literatur und Kunst gelten. Man muss nicht das Ganze verstehen, wie man doch auch einen Menschen nie ganz versteht. Ich bin fest davon überzeugt: Aber auch literarisch weniger gebildete Menschen sehen die Schönheit der Verse Hölderlins, und finden Aspekte, die sie anziehen, und wieder andere, die ganz ihnen fern sind. Nah und fern zugleich. Das ist der konkrete Mensch. Das ist das konkrete Gedicht. Geist und Seele aufzumachen, das ist kein Privileg der literarisch Gebildeten. Das muss man nur wirklich wollen und sich bereit machen dafür.

Ist Poesie vielleicht die Ursprache des Seins?

Aber was ist „das Sein“? Vielleicht also heute und seit der Zeit Hölderlins so: die Sprache des Subjekts! Dessen „Grund“ hat ihn interessiert, das gewiss. Für die einen ist Lyrik ein Denkimpuls bei den eigenen Fragen, möglicherweise sogar bei Fragen im Religiösen. Es ist eine alte Auffassung, dass Poesie die Ursprache der Menschheit sei. Und vieles spricht tatsächlich dafür, dass Religion und Kunst gleich ursprünglich sind in der Geschichte der Menschheit. Literatur kann ein Impuls für vieles sein. Mahnen würde ich jedoch immer, Literatur in Anspruch zu nehmen, weil man anders seine Verstehensprobleme nicht lösen kann. Zum Beispiel, wenn man nicht mehr theologisch über Schöpfung reden möchte. So möchte ja auch kein Mensch immer nur in Anspruch genommen werden als Notnagel, sondern in seinem So-Sein, wie er ist, gelten. Wenn man nur zu etwas gut ist, nur Funktion, fühlt man sich entfremdet, und man behandelt den anderen vielleicht auch nur so. Es ist vielleicht eine hilfreiche Vorstellung, im Gedicht, im Kunstwerk auch ein Individuum zu sehen, das nicht nur benutzt werden möchte, um Probleme zu lösen. Welches Problem lösen schon Beethovens wunderbare Bagatellen?

 

Das ganze Interview finden Sie in der Printausgabe des Dom Nr. 15 /2020 oder im kostenlosen E-Paper.

0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anschauen