18.05.2020

Wenn Studenten das Denken verlernen

Die Uni-Bibliothek als Ort der Forschung und Wissenschaft: Der Alltag sieht für heutige Studenten häufig anders aus. Foto: Pixabay

Paderborn. Dauerbaustelle Bildung: Wohl nirgendwo anders ist der Reformeifer so ausgeprägt. Kritik wird oft laut, verstummt aber meistens irgendwann wieder, wenn die Neuerungen zum Alltag werden. Sascha Dederichs (kl. Foto), selbst in der Bildungsbranche tätig, sieht das bildungspolitische Hin und Her seit Jahren mit wachsendem Unbehagen. In seinem Buch „Der Sturz der Eule“ beschreibt er einige der „Verwüstungen“ im Bildungsbereich und ihre Folgen– insbesondere die Konsequenzen aus dem sogenannten Bologna-Prozess, der die Studienabschlüsse europaweit einheitlich regelte. Der Dom sprach mit ihm über den Unterschied von Bildung und Wissensaneignung sowie über die Frage, warum die Zahl der Einser-Abis seit Jahren wächst.

Die Eule als Inbegriff von Weisheit und Bildung ist Ihrer Meinung nach abgestürzt. Wie ist das passiert, und wie bringt man sie wieder zum Fliegen?

Ein Grund ist meiner Ansicht nach, dass der Begriff der Bildung völlig konturlos geworden ist. Jeder scheint darunter etwas anderes zu verstehen. Da werden Ausbildung, Qualifizierung oder Soft-Skill-Vermittlung miteinander vermengt. Eine klare Definition, was eigentlich Bildung sein soll, gibt es nicht mehr. Aktuell kommt hinzu, dass wir es mit einem ökonomisch verengten Bildungsbegriff zu tun haben, der immer auf einen praktischen Nutzen ausgerichtet ist.

Wie war das vor dieser Ökonomisierung?

Wenn man sich den Bildungsbegriff des Neuhumanismus, für den zum Beispiel Wilhelm von Humboldt steht, anschaut, dann hat Bildung eine andere Bedeutung: Nämlich sich aus einem Interesse heraus die Welt und die darin enthaltene Kultur zu erschließen. Diesen Bildungsbegriff haben wir heute nicht mehr, und deshalb ist die Eule abgestürzt.

Und was müsste passieren, damit sich das wieder ändert?

Wenn man sich die Bildungsreformen anschaut, die in den letzten 20 Jahren angestoßen worden sind, dann sieht man, dass sich diese Maßnahmen mit dem eigentlichen Verständnis von Bildung nicht mehr vertragen. Letztlich zeigt sich auch, dass es darauf immer weniger anzukommen scheint. Denn Bildung braucht Zeit– die man den jungen Menschen aber durch das G8 und den Bachelor-Studiengang in sechs Semestern genommen hat. Zwei Jahre fehlen hier. Meiner Ansicht nach muss man hier zurückrudern und ihnen wieder mehr Zeit geben, was bei der vielfachen Rückkehr von G8 zu G9 ja schon ein Stück weit geschehen ist. Ebenso muss man sich von dem auf ökonomischen Nutzen beschränkten Bildungsbegriff verabschieden.

Gab es einen konkreten Anlass, das Buch zu schreiben?

Der liegt zu einem Teil in meiner eigenen Biografie. Ich war mitten im Studium, als die Umsetzung des Bologna-Prozesses eingeläutet wurde. Selbst nicht mehr unmittelbar betroffen habe ich aber mitbekommen, wie groß die Verunsicherung war. Hinzu kommt meine grundsätzliche Skepsis bezüglich der Reformen in den letzten Jahren: Sie haben nicht mehr das Ziel, Bildung in den Mittelpunkt zu stellen. Die Fokussierung auf die Arbeitswelt und die Frage nach Verwertbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit haben alles andere verdrängt. Das sind aber Begriffe, die originär weniger mit Bildung zu tun haben, sondern eher aus der Wirtschaftspraxis kommen. Ich plädiere für die Rückbesinnung auf eine Bildung, die erst mal den Menschen in den Mittelpunkt stellt und keine fremden Interessen.

Das Buch ist also ein Protestschrei?

Das kann man so sagen, und zwar gegen die Instrumentalisierung der Bildung für Zwecke, die wenig bis nichts mit ihr zu tun haben.

Nun würden Ihnen Wirtschaftsvertreter antworten, dass Deutschland nicht klassische Bildungsbürger, sondern fachlich qualifizierte Ingenieure braucht! Wie bekommt man das unter einen Hut?

Also wenn man schon ständig mit Bedarfen argumentiert, dann muss man dahin schauen, wo der Schuh am meisten drückt: Mit Blick auf die Wirtschaft fehlt doch vor allem dem klassischen Handwerk der Nachwuchs! Dieses Ungleichgewicht ergibt sich schlicht aus der Zielvorgabe, dass rund 50 Prozent eines Jahrgangs die Hochschulen besuchen sollen. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels müsste man also eher die duale Berufsausbildung– im Übrigen ein deutsches Erfolgsmodell– stärken! Stattdessen suggeriert man durch die Forderung nach einer hohen Akademiker-Quote, dass die klassische Berufsausbildung nur zweitklassig ist! Ich halte es für einen großen Fehler, die Berufsqualifizierung zu Lasten der dualen Berufsausbildung immer stärker an die Hochschulen zu verlagern.

Was sollte noch geändert werden?

Eine Stärkung der Fachhochschulen ist ebenso notwendig! Sie bieten die idealen Voraussetzungen, wissenschaftlich fundiert junge Menschen anwendungsorientiert für den Bedarf des Arbeitsmarktes auszubilden. Universitäten sind von ihrer Idee her wissenschaftlich ausgerichtet gewesen. Der Bologna-Prozess hat sie jedoch den Fachhochschulen angeglichen– meiner Meinung nach ein falscher Schritt! Mit Blick auf die wirklichen Erfordernisse hieße das zusammengefasst, die duale Berufsausbildung zu stärken, die Fachhochschulen zu fördern und letztlich die Universität zu entlasten und wieder zu einem Ort zu machen, der seinen Schwerpunkt auf Bildung durch Wissenschaft legt.

Kritische Stimmen und Proteste in Sachen Bologna-Reform gab es ja durchaus. Doch mittlerweile scheinen alle Akteure die Veränderungen akzeptiert haben. Stimmt das?

Ich denke, dass sich die meisten damit abgefunden haben. Ich kann das allerdings nicht nachvollziehen. Denn die Universitäten sind dadurch in eine Schieflage geraten, die negative Folgen für die ganze Gesellschaft nach sich zieht. Es wird zwar immer von wirtschaftlichen Notwendigkeiten geredet, aber man muss auch die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen im Blick haben!

Das ganze Interview gibt es im Dom 21 zu lesen.

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Stichwort

Bologna-Prozess

Die BolognaErklärung legte 1999 den Grundstein für die Umstellung auf die Bachelorund MasterAbschlüsse in Deutschland, die die Diplom- und Magister-Abschlüsse ersetzen sollten. In der Erklärung verpflichteten sich zunächst 29 europäische Staaten, das Bachelor-Master-System einzuführen. Mit dem sogenannten Bologna-Prozess sollte ein einheitlicher europäischer Bildungsraum geschaffen werden. Er hatte in erster Linie das Ziel, im europäischen Hochschulwesen einheitliche Studienabschlüsse zu schaffen: ein dreigliedriges, transparentes System aus Bachelor, Master und Promotion. Das neue System sollte die Mobilität der Studierenden, Lehrkräfte und Wissenschaftler, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigungsfähigkeit fördern.

 

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