19.04.2018

Mittwochs ist „Oma“-Tag

Jessica Gerdhenrichs mit Ulla Schmid aus Rietberg: Die 63-Jährige ist mit ganzem Herzen Leih-Oma. Foto: Wiedenhaus

Gütersloh/Rietberg. Eine Oma oder einen Opa leihen? Diese Vorstellung klingt erst einmal ziemlich „verrückt“. Bei genauerer Betrachtung könnte die Idee gerade in einer Zeit schwindender familiärer Bindungen aber durchaus etwas für sich haben. Wie groß das Potenzial in der Tat ist, zeigt der Erfolg des Leih-Großeltern-Projektes, das der SkF Gütersloh zusammen mit dem Kreisfamilienzentrum in Rietberg und dem Familienzentrum St. Marien in Gütersloh realisiert hat.

von Andreas Wiedenhaus

Dieses hat sich zu einem ganz besonderen Mosaik-Stein im Unterstützungsangebot speziell für Alleinerziehende entwickelt. 2011 ging es an den Start. Aktuell engagieren sich zwölf Leih-Großeltern. Ihre „Enkelkinder“ sind zwischen zwei und zwölf Jahre alt.

„Das ist doch etwas für mich!“ Ulla Schmid aus Rietberg weiß noch genau, was sie dachte, als sie 2011 über einen Zeitungsartikel von der Leih-­Großeltern-Initiative erfuhr. Sie zögerte nicht, nahm Kontakt zum SkF in Gütersloh auf und wurde Leih-Oma. Dass sie mit ihrer spontanen Entscheidung damals genau richtig lag, zeigt nicht zuletzt die Begeisterung, mit der die Rietbergerin heute von ihrer „Enkelin“ Carina (Name geändert) erzählt: „Für mich sind die Treffen mittwochs immer wieder ein Höhepunkt der Woche!“ „Und für Carina sicherlich auch“, fügt sie lächelnd hinzu.

Noch gut erinnert sich die 63-Jährige an den ersten Kontakt: „Ich war so aufgeregt wie selten in meinem Leben!“ Die damals fünfjährige zukünftige Enkelin sei ebenfalls alles andere als entspannt gewesen, sagt Ulla Schmid rückblickend: „Carina hatte Angst und verkroch sich erst einmal.“ Auch wenn es in diesem Moment vielleicht nicht so aussah: Der Besuch legte den Grundstein für eine Beziehung, von der auch „echte“ Omas manchmal nur träumen können. „Wir verstehen uns wirklich wunderbar!“, sagt Ulla Schmid.

Dass das Verhältnis so innig wurde, führt Astrid Peters, die Geschäftsführerin des SkF Gütersloh, darauf zurück, dass alles sehr behutsam vonstattengeht. So finden die ersten Treffen immer in Begleitung der Mutter statt. „Wir schauen natürlich auch grundsätzlich, wer zu wem passen könnte“, erläutert Jessica Gerdhenrichs, die zuständige Sozialarbeiterin beim SkF, die Vorgehensweise und erklärt, dass weitere Leih-­Großeltern jederzeit willkommen seien.

Bei Carina und ihrer neuen Oma passte offensichtlich alles: Ulla Schmid ist längst „adop­tiert“. Das liegt nach Einschätzung von Jessica Gerdhenrichs nicht zuletzt auch daran, dass die 63-Jährige die nötige Toleranz mitbringe: „In dieser Rolle muss man damit umgehen können, dass die Mütter oder Väter manches anders machen, als man es vielleicht selbst tun würde.“ Ulla Schmid bestätigt das: „Ich war mir von vornherein darüber im Klaren, dass ich das akzeptieren würde“, sagt die Mutter eines heute 32-jährigen Sohnes und betont, dass Carinas Mutter und sie in Erziehungsgrundsätzen übereinstimmen: „Darüber haben wir uns von Anfang an verständigt.“ Abgesehen davon sei der Kontakt mit der Mutter über die vergangenen Jahre immer sehr eng gewesen. „Sie hat es wirklich nicht leicht“, beschreibt Ulla Schmid das Leben der 42-Jährigen, die beruflich bisher nie richtig Fuß fassen konnte.

Die Situation von Carinas Mutter steht in zahlreichen Punkten stellvertretend für die Probleme, mit denen Alleinerziehende häufig zu kämpfen haben: Denn es ist längst nicht nur die oft schwierige finanzielle Situation: „Viele Alleinerziehende sind wirklich ganz auf sich gestellt“, ergänzt SkF-Geschäftsführerin Astrid Peters. Aus den unterschiedlichsten Gründen fehle ihnen eine familiäre Anbindung, die sie unterstützen könne: „Manchmal gibt es einfach keinen Kontakt mehr, oft sind die Entfernungen auch einfach zu groß für regelmäßige persönliche Treffen und Besuche.“ Dass das Projekt auf so große Resonanz gestoßen ist, führen Astrid Peters und Jessica Gerdhenrichs auch darauf zurück, dass viele der Ratsuchenden beim SkF alleinerziehend sind: „Das war ein Aspekt bei der Entwicklung der Idee.“

Für Carina ist immer mittwochs „Oma“-Tag. Ulla Schmid holt die Zehnjährige in Gütersloh ab und fährt mit ihr nach Rietberg: „Wenn nach einer Tasse Kakao Ruhe eingekehrt ist, überlegen wir gemeinsam, was wir machen können.“ Dabei, so ihre Erfahrung, müsse gar nichts „Spektakuläres“ passieren: Plätzchen backen, Malen, mit Handpuppen spielen, ein Spaziergang oder der Spielplatz – Möglichkeiten gibt es viele. Die Rietbergerin erinnert sich an einige auf den ersten Blick alltägliche Situationen, die für ihre Enkelin etwas Besonderes waren: „Wir haben zum Beispiel einmal an einem Weizenfeld angehalten und uns die Pflanzen genau angesehen. Das hatte Carina noch nie gemacht.“ Ein anderes Mal waren beide gemeinsam in der Kirche. „Kinder sind unendlich dankbar, wenn man sich Zeit für sie nimmt, Dinge erklärt, sie ernst nimmt.“

Natürlich steht auch die ein oder andere Überraschung auf dem Programm: zum Beispiel ein Ausflug zum Rodeln. Ebenso selbstverständlich sind Geschenke zum Geburtstag oder zu Weihnachten. „Wie jede normale Oma darf man das Kind sicherlich auch verwöhnen“, bestätigt Jessica Gerdhenrichs, „allerdings in einem Rahmen, der keine Konkurrenz-Situation zu Mutter oder Vater entstehen lässt.“ Dass bei ihrer Leih-Oma außerdem in mancher Beziehung andere Regeln gelten, habe die Zehnjährige akzeptiert, erzählt Ulla Schmid: „Während zu Hause abends schon mal auf dem Sofa vor dem Fernseher gegessen wird, versammeln wir uns bei mir zum gemeinsamen Essen am Tisch.“

Um Enttäuschungen oder Irritationen auf beiden Seiten zu vermeiden, gibt es ein umfangreiches Vorbereitungs- und Begleitprogramm. Ein Punkt, der auch für Ulla Schmid großen Stellenwert hat: „Die Expertinnen sind verlässliche Ansprechpartne­rinnen in allen Fragen.“ Das SkF-Projekt wolle schließlich „kein Babysitter-Service sein“, erklärt Geschäftsführerin As­trid Peters, deshalb werde auf Vorbereitung und Begleitung so viel Wert gelegt. „Es soll eine tragfähige emotionale Beziehung entstehen“, beschreibt Jessica Gerdhenrichs ein zentrales Ziel. Dabei sei natürlich die Entlastung der Mütter oder Väter ein willkommener Aspekt. Im Mittelpunkt aber stünden die Kinder, macht Astrid Peters deutlich: „Sie sollen die gesamte Aufmerksamkeit bekommen.“

Jemand ist nur für sie da – diese Erfahrung war für die heute zehnjährige Carina etwas völlig Neues. Ulla Schmid ist in diesem Zusammenhang eine Frage des Kindes im Gedächtnis geblieben: „Bezahlt dich Mama eigentlich dafür?“ – „Das tue ich nur für dich und den lieben Gott“, habe sie geantwortet: „Um ihr meine christliche Motivation zu erklären.“ Dabei profitiert die Enkelin nicht allein von dieser besonderen Beziehung. Sie selbst bekomme auch sehr viel, sagt Ulla Schmid: „Mit Carina mache ich Dinge, die mich jung halten!“

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