„Das System fährt vor die Wand“

Geburtshilfe und Kinderkrankenpflege stecken in einer tiefen Krise. Damit müssen die Mitarbeitenden der Frauen- und Kinderklinik St. Louise in Paderborn seit Langem leben. Ein Gespräch mit den Chef­ärzten PD Dr. Friedrich Ebinger und Prof. Dr. Michael Patrick Lux über einen unhaltbaren Zustand. Das Interview führte Karl-Martin Flüter.

Paderborn. Das Gespräch mit den Chefärzten fand in einem Besprechungsraum im Erdgeschoss der Klinik St. Louise statt. Beim anschließenden Foto vor der Fassade der Klinik wies Friedrich Ebinger auf die Balkone vor jedem Patientenzimmer hin. Sie dürfen schon seit Jahren nicht mehr betreten werden, weil niemand für die Sicherheit garantieren kann – nur ein Beispiel für den hohen Sanierungsbedarf der Klinik, die zuletzt vor mehr als 40 Jahren grundlegend saniert wurde.

Die Landesregierung Düsseldorf hat im Januar erklärt, es gebe landesweit keinen wahrnehmbaren Mediziner- und Pflegekräftemangel in der Kinderkrankenpflege.

Die beiden Chefärzte lachen.

PD Dr. Ebinger: Das kann ich mir nur mit einer Wahrnehmungsstörung erklären. Wir mussten in den letzten Monaten immer wieder Betten für Frühchen sperren, weil die Fachpflegekräfte fehlten und deshalb Schwangere mit drohender Frühgeburt auf andere Kliniken verweisen. Die Fallpauschalen, nach denen unsere Arbeit bezahlt wird, sind zu gering, vor allem, weil die sogenannten „Vorhaltekosten“ nicht angemessen beglichen werden. Seit Jahrzehnten bekommen wir vom Land nicht genug Geld für Investitionen in die Struktur. Das System wird an die Wand gefahren und das klassische „dua­listische System“ der Finanzierung von Krankenhäusern funktioniert nicht mehr.

Prof. Dr. Lux: Jedes Jahr verschwinden in Deutschland 20 bis 30 geburtshilfliche Kliniken und neonatologische Kliniken, die sich mit der Behandlung von Frühgeborenen und erkrankten Neugeborenen befassen, von der Landkarte. Auch Paderborn hatte mal vier Geburtskliniken, heute hat die Stadt nur noch eine.

PD Dr. Ebinger: 2009 gab es 440 Kinderabteilungen in Deutschland, 2019 nur noch 333. Diese Tendenz wird sich fortsetzen.

Prof. Dr. Lux: Ich bin nun seit 2019 Chefarzt in Paderborn. Seitdem haben fünf geburtshilfliche Kliniken in der näheren Umgebung geschlossen. Alles Häuser mit 500 bis 600 Geburten, die sich nicht mehr rentiert haben. Die Geburten und das Patientenaufkommen verlagerten sich zu einem großen Teil in die St. Louise in Paderborn und ins St. Josefs in Salzkotten. Als ich kam, hatten wir unter 3 000 Geburten pro Jahr. Jetzt, dreieinhalb Jahre später, sind wir bei fast 4.000 Geburten – 1.000 Geburten mehr im Jahr in denselben Räumlichkeiten, die seit Jahrzehnten leider nicht saniert wurden.

Besonders die Personallage scheint kritisch zu sein.

Prof. Dr. Lux: Mit welchen Chef­ärzten anderer Kliniken man spricht, die Lage scheint überall gleich schlecht zu sein. Das größte Problem, das wir zurzeit haben, ist der Mangel an spezialisierten Pflegefachkräften. Bei mir ist das insbesondere in der OP-­Pflege der Fall.

PD Dr. Ebinger: Die seit einigen Jahren verbindliche generalistische Ausbildung von Pflegekräften hat die Lage verschärft. Der Beruf der Kinderkrankenschwestern und Kinderkrankenpfleger läuft damit aus. Kinderkrankenpflege ohne speziell ausgebildete Pflegefachkräfte ist aber nicht denkbar. Wir müssen also nachqualifizieren. Das dauert etwa ein Jahr. Die Weiterqualifikation zur OP- oder Intensiv-­Pflegefachkraft noch einmal zwei Jahre. Wenn man weiß, wie lange Pflegefachkräfte tatsächlich arbeiten, durch eigene Familienplanung pausieren und dann vielleicht als Teilzeitkräfte wiederkommen, dann kann man absehen, dass ein Mangel an spezialisierten Kräften vorprogrammiert ist.

Prof. Dr. Lux: Die Klinik musste in den letzten Monaten mehrfach neonatologische Betten sperren, weil Pflegefachkräfte fehlten. Die Betten waren zwar frei, wir hatten aber kein geeignetes Personal. Die Folge war, dass wir Frauen, die mit Risikoschwangerschaften zu uns kamen, nach Detmold, Lippstadt und Kassel verweisen mussten. Es ist besser, die schwangere Frau zu verlegen, als nach der Geburt ein Frühgeborenes der Strapaze eines Krankentransports ­auszusetzen. Einige Paderborner ­Frauen haben so ihr Kind in Kassel oder Lippstadt entbunden.

Sie sprachen von nicht ausreichenden „Vorhaltekosten“. Was ist damit gemeint?

Prof. Dr. Lux: Das sind die Kosten, die durch die Fallpauschalen nicht ausreichend abgedeckt werden. Fallpauschalen sind ja leistungsorientiert. Wenn aber nachts keine Frau zur Geburt kommt, müssen wir trotzdem die Hebamme und die Ärzte „vorhalten“, obwohl keine „Leistung“ generiert wird. Das wird aber nicht ausreichend gegenfinanziert.

PD Dr. Ebinger: Das gilt auch für die „sprechende Medizin“. Zum Beispiel ein Kind mit Bauchschmerzen. Oft ist in einem solchen Fall organisch nichts festzustellen. Ein ganzes Team von Ärzten und Psychologen ist damit beschäftigt, die Krankheitsursache festzustellen: Wann treten die Symptome auf und in welchen Situationen? Doch wenn wir diese ganzheitliche Diagnose abrechnen, wird uns vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) vorgeworfen, dass wir das auch ambulant hätten machen können.

Außerdem haben wir immer mehr Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, die alle mit dem Immunsystem in Verbindung stehen: Diabetes, kardiologische Erkrankungen, aber auch multiple Sklerose oder chronisch entzündliche Darm­erkrankungen. Diese Kinder brauchen eine Dauerbetreuung. Die Behandlung verlangt einen hohen Zeitaufwand, der nicht refinanziert wird.

Wie ist es mit der Investition in Gebäude und in Ausstattung der Kliniken?

Prof. Dr. Lux: Der Substanzverlust bleibt ein Problem. Weil das Land seit Jahren nicht ausreichend in die Klinikgebäude und die Ausstattung investiert hat, steigt der Investitionsbedarf. Wir haben hier in der Klinik St. Louise einen Substanzverlust. Das Haus ist vor mehr als 40 Jahren das letzte Mal grundlegend erneuert worden. Wir versuchen seit Jahren Gelder für einen Anbau oder einen Neubau vom Staat zu bekommen.

Wie ist der aktuelle Planungsstand?

Prof. Dr. Lux: Unsere Bemühungen gehen in Richtung eines klimaneutralen Neubaus. Dass dieses Gebäude, in dem wir sitzen, nicht klimaneutral ist, ist offensichtlich. Man muss sich nur die Fenster anschauen. Da wird geheizt für nichts. Die Geschäftsführung steht in Verhandlungen, aber konkret ist bislang nichts.

Wir haben aber 5,6 Millionen Euro vom Land erhalten, um nach dem Schließen der Geburtshilfe im St. Johannisstift die Geburtshilfe an den Standorten Paderborn und Salzkotten zu stärken. Ein Kapazitätsausbau ist hier trotzdem unerlässlich, da eine Renovierung nicht mehr Raum schafft. Ein angemessener Neubau wird aber auf 120 Millionen Euro geschätzt.

PD Dr. Ebinger: Wenn Gesundheitsminister Lauterbach sagt, er wolle bundesweit 120 Millionen Euro für die Geburtshilfe und die Neonatologie in die Hand nehmen, dann ist die Summe tatsächlich verschwindend gering. Das würde gerade mal für Paderborn reichen.

PD Dr. Friedrich Ebinger (links) und Professor Dr. Michael Patrick Lux. (Foto: Flüter)
PD Dr. Friedrich Ebinger (links) und Professor Dr. Michael Patrick Lux. (Foto: Flüter)

In der Diskussion um die Situation geht es immer nur ums Geld. Ist es nicht ein Skandal, dass für Schwangere, Neugeborene und Kleinkinder offensichtlich nicht genug Geld ausgegeben wird?

Prof. Dr. Lux: Ich setze Hoffnung auf das Krankenhausreform­gesetz. Man will die „Vorhaltekosten“ erhöhen, gibt aber weiterhin Grenzen vor. Eine Regelung ohne Obergrenzen könnte dazu führen, dass das ausgenutzt wird und die Kosten steigen. Eine gewisse Leistungsorientierung muss bleiben.

PD Dr. Ebinger: Wir haben das DRG-­Modell aus Australien übernommen. Dort galten die DRGs aber nicht für alle medizinischen Fachbereiche. Das ist erst in Deutschland geschehen und das ist vor allem für die Pädiatrie ein großes Pro­blem. Dass es so lange dauert, bis dieser Missstand von der Politik aufgegriffen wurde, liegt wohl daran, dass Schwangere, Kinder und junge Familien keine ausreichende große Lobby in Gesellschaft und Politik haben.

Es gibt in der aktuellen Diskussion die Forderung, Geburtshilfe und Pädiatrie müssten vom Staat bezahlt werden, weil sie gesellschaftlich von so großer Bedeutung sind. Ich kann das nachvollziehen. Man muss über alles reden, aber es muss sich etwas ändern. Dass es so weitergeht wie bisher, hofft in der Geburtshilfe und Pädiatrie niemand.

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