Eine sichere Zuflucht für Menschen mit Behinderung

Schon kurz nach dem russischen Überfall vor einem Jahr flüchteten auch ­Menschen mit Behinderung aus der Ukraine nach Deutschland. Aufnahme nach ihrer Flucht fanden sie zum Beispiel in Caritas-­Einrichtungen in Warburg und in Brilon.

Warburg/Brilon. Das kleine rosa Schweinchen will nicht passen. Marija (Namen der behinderten Menschen aus der Ukrai­ne wurden von der Redaktion geändert) dreht es ein paar Mal hin und her, schaut noch einmal genau hin, versucht es erneut und es klappt! Das Holztier hat den richtigen Platz auf dem Legespiel gefunden. Marija freut sich. Sie lacht, klatscht in die Hände. Gleich neben ihr ist Sofija genauso konzen­triert bei der Sache. Die Frau mit den langen geflochtenen Zöpfen klebt kleine bunte Punkte auf Papier, zeigt das Ergebnis stolz der jungen Frau neben ihr, die Figuren auf Papier ausmalt. Rund um den Tisch wird ausgeschnitten, zusammengeklebt, gebastelt. Eine auf den ersten Blick alltägliche Szene.

Doch in der Heimat der Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung, die sich an diesem Dienstagnachmittag in einem Aufenthaltsraum des HPZ St. Laurentius in Warburg getroffen haben, sieht der Alltag ganz anders aus. Vor einem Jahr ist der Frieden in der Ukraine einem schrecklichen Krieg gewichen.

Rückblick auf den Februar 2022: Putin macht das, was viele befürchtet, ihm insgeheim aber vielleicht doch nicht zugetraut hatten: Er befiehlt den russischen Truppen den Überfall auf die Ukrai­ne. Angegriffen werden nicht nur militärische Ziele, Bomben und Raketen treffen auch Wohngebäude. Zivile Infrastruktur wird gezielt unter Feuer genommen. Viele ukrai­nische Männer kämpfen in der Armee, alte Menschen, Frauen und Kinder suchen Zuflucht in Kellern und Bunkern. Andere, die die Chance bekommen, flüchten aus dem Land in Richtung Westen – nach Polen oder Deutschland.

Chaos aus Alarm, Entwarnung und ständiger Angst

Wer auf Hilfe angewiesen ist, hat es im Chaos aus Alarm, Entwarnung und ständiger Angst besonders schwer. Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Heimes für behinderte Menschen in Kiew haben Glück: 86 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit geistiger Behinderung, ihre 16 Betreuerinnen sowie acht Familienangehörige können mit einem Bus nach Polen fliehen, finden dort für zwei Wochen Aufnahme in einem Kurheim in Opole. In Kiew hatten sie bis zu ihrer Flucht fünf Tage in einem Bunker Schutz gefunden.

Zeitgleich läuft die Koordination der Evakuierung zwischen dem ukrainischen Einrichtungsträger, der Caritas Polen und dem Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V. (CBP) mit Sitz in Berlin an. Der CBP startet am 6. März 2022 einen Aufruf: Gesucht werden Träger und Einrichtungen der Behindertenhilfe in Deutschland, die die Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen können. 

Neben anderen Einrichtungen im Erzbistum Paderborn meldet sich das Heilpädagogische Zentrum (HPZ) St. Laurentius in Warburg, erklärt sich bereit zur Aufnahme einer Gruppe. Die Warburger Einrichtung gehört zum CWW (Caritas Wohn- und Werkstätten) im Erzbistum Paderborn. Fünf Kinder und sechs Erwachsene zwischen 11 und 36 Jahren sowie zwei ukrai­nische Begleiterinnen kommen nach Warburg. Julian Mayer vom HPZ begleitet die Gruppe seit ihrer Ankunft.

Feste Strukturen

Die Rahmenbedingungen waren rasch geschaffen: Wohnraum gab es in einem Gebäude, das aktuell nicht genutzt wird. Die Kinder besuchen die Förderschule auf dem Gelände des HPZ, für die Erwachsenen gibt es Angebote in den Werkstätten. In bürokratischer Hinsicht trafen allerdings ab und zu aber „Welten aufeinander“, wie Mayer sich erinnert: „Fast alle Dokumente sind in Kiew geblieben, und wenn Papiere nicht vorliegen, etwa mit Blick auf den Impfstatus, wird es kompliziert, oder wenn es darum geht, den Grad der Behinderung festzustellen.“ 

In der Ukrai­ne lebten die Kinder und Jugendlichen in festen Gruppen, ähnlich wie früher in den SOS­Kinderdörfern. Julian Mayer: „Menschen mit Behinderung brauchen in der Regel feste Strukturen, an die sie sich gewöhnt haben. Das gibt ihnen Sicherheit.“ Die Gruppe kenne sich schon lange, unterstütze sich gegenseitig, sei zu einer Lebensgemeinschaft geworden: „So etwas darf man natürlich nicht ausei­nanderreißen!“ In Deutschland hat man sich von solch starren Ideen lange verabschiedet und praktiziert offenere Formen. Beim Wohnen zum Beispiel war es für die Geflüchteten sehr wichtig, wieder wie zu Hause in Mehrbettzimmern zu schlafen.

„Auch wenn manches vom ukrai­nischen Modell nicht unseren Vorstellungen von Inklusion entspricht, haben wir es natürlich akzeptiert“, sagt Mayer. Ein Punkt, bei dem ihm auch Heinz-­Georg Eirund zustimmt. Er ist Vorstandsvorsitzender des Caritasverbandes Brilon. Dort haben ebenfalls Menschen mit Behinderung aus der Ukrai­ne Zuflucht gefunden: „Natürlich kann man in so einer Situation den Menschen nicht unser Modell überstülpen.“

„Betreuer“ gibt es in der Ukraine nicht

Diese Sichtweise hat einiges dazu beigetragen, dass alle schnell in Brilon und Warburg heimisch wurden. Dafür sorgten auch zwei ukrai­nische Betreuerinnen, die jeweils für einen bestimmten Zeitraum nach Warburg kommen. In Sachen Kommunikation hilft moderne Technik. Julian ­Mayer hat eine Frage und spricht sie auf Deutsch in sein Handy. Auf dem Display erscheint die ukrai­nische Übersetzung. „Das funktioniert, hat aber seine Tücken“, erinnert sich der 34-­Jährige an eine Situation, in der es um rechtliche Betreuungen ging. „Betreuer“ gibt es im Ukrai­nischen nicht, es wurde mit „Wächter“ übersetzt. Und dieses Wort löste dann in der Ukrai­ne Befürchtungen aus. Julian ­Mayer: „Es hat etwas gedauert, bis wir den Übersetzungsfehler als Grund dafür erkannt haben.“

Rückkehr in die Ukraine ist ungewiss

Ein Jahr Krieg in der Ukraine, ein Jahr Tod und Flucht, Verfolgung und Vertreibung. Niemand weiß, wann es wieder Frieden geben wird. Die Lage ist unübersichtlich, die Zerstörungen immens. Auf politischer Seite scheint über nichts anderes als über Waffenlieferungen diskutiert zu werden. Egal, wie der Krieg ausgeht, für Menschen, die ständig auf Hilfe angewiesen sind, wird eine Rückkehr in das gewohnte Leben besonders schwierig werden, selbst wenn sie in ihre Heimat zurück können.

Im Aufenthaltsraum im HPZ scheint der Krieg keine Rolle zu spielen. Die Sonne scheint durch die Fenster, von draußen ist Vogelgezwitscher zu hören. Es wird gespielt und gelacht, ein Mädchen lauscht gebannt einer Spieluhr, die es immer wieder aufzieht. Ein Wiegenlied erklingt. Tod, Elend und Zerstörung in der Ukraine scheinen in diesem Moment ganz weit weg. Und rein geografisch ist die Entfernung ja auch groß.

Erlebnisse etwa von den Tagen im Bunker sind präsent

„Die Erlebnisse etwa von den Tagen im Bunker sind aber präsent“, sagt Heinz-­Georg Eirund: „Wir wissen nicht genau, was sie gesehen und gehört haben. Und gerade für Menschen mit geistiger Behinderung ist es schwierig, so etwas zu verarbeiten.“ Für die ­Caritas in Brilon wie für das HPZ ist klar, dass die Hilfe so lange geleistet wird, wie sie gebraucht wird.

„Für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war es von Anfang an eine Herzensangelegenheit“, sagt Eirund: „Das ist Caritasarbeit in ihrem ganz ursprünglichen Sinn.“ Wie lange die Menschen noch bleiben werden, kann derzeit niemand sagen. Eine Herausforderung, so der Caritas-­Vorstand, sei in diesem ­Zusammenhang, den Personalschlüssel stabil zu halten. Auch seien manche Fragen der Finanzierung noch immer nicht geklärt. „Doch das ist alles absolut zweitrangig.“ Vor Kurzem habe ihn ein Mitarbeiter gefragt, ob er alles noch einmal so machen würde, erzählt Heinz-­Georg Eirund: „Wir waren uns einig, dass es in dieser Situation die einzig richtige Entscheidung war, und dass wir sie immer wieder so treffen würden.“

Text: Andreas Wiedenhaus / Fotos: Patrick Kleibold

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