Wider die Demokratie-Entleerung – Über Gewalt und Vorbeugung

Demokratie ist mühsam, aber lohnenswert. Wie man sie praktiziert, können junge Leute u. a. in den katholischen Jugendverbänden lernen. Das Bild zeigt eine Abstimmung bei der BDKJ-­Hauptversammlung im vergangenen Jahr. (Foto: BDKJ-Bundesstelle/Christian Schnaubelt)

Was ist da los? Sanitäter, Feuerwehrleute und Polizisten werden angegriffen. Nicht erst seit Silvester ist das Phänomen bekannt, aber seit den Ereignissen in Berlin ist das Erschrecken groß. Ein Gespräch mit dem Konfliktforscher Martin Winands über die Gewalt und wie man ihr vorbeugen kann.

Herr Prof. Winands, warum greifen Menschen ausgerechnet Hilfskräfte an?

Teilweise sind Hilfskräfte offenbar gezielt attackiert worden, es war u. a. von Barrikaden zu lesen. Andererseits stellt sich die Frage, ob alle Beteiligten Angriffe auf Rettungskräfte intendiert haben, also im Sinne eines Kalküls. Es war eine unübersichtliche Gemenge­lage. Grundsätzlich muss man sagen, dass Rettungskräfte und erst recht Polizisten in Situationen kommen, die besonders konfliktanfällig sind, sodass sie ein höheres Risiko tragen. Solche Gruppensituationen wie in Berlin sind immer besonders dazu geeignet, zu eskalieren. Vor allem, wenn noch Faktoren wie erhöhter Alkoholkonsum hinzukommen oder gefährliche Gegenstände wie Feuerwerkskörper, die unkontrolliert geschossen werden können. In solch einer Gemenge­lage werden ­Rettungskräfte als störend empfunden und womöglich angegriffen.

Wie kann das sein oder anders gefragt: Bei was stören Rettungskräfte?

Sie stören dabei, die Gruppensituation auszuleben und werden daher als Bedrohung der Gruppe wahrgenommen, die im öffentlichen Raum feiert, Alkohol konsumiert und mit Böllern schießt. Hinzu kommt, dass Rettungskräfte eine gewisse Normierungsfunktion besitzen. Sie sollen die Lage regulieren, die Polizei schreitet gegebenenfalls ein, räumt einen Platz und drängt Leute ab. Aus Sicht der Gruppe wird das als eine Störung, womöglich sogar als Bedrohung der eigenen Gruppe bewertet. Feuerwehr und Rettungskräfte werden in solchen Situationen dem kontrollierenden Staat zugeordnet und als Problem wahrgenommen. Das gilt insbesondere für solche Milieus, in denen eine Feindlichkeit dem Staat und seinen Organen gegenüber existiert. Allerdings kennen wir solche Attacken auf Rettungskräfte nicht erst seit Silvester. So etwas gibt es auch bei ganz normalen Einsätzen, nur weniger spektakulär.

Wer macht so was?

Das ist schwer zu sagen. Ganz sicher ist es aber falsch, hier pauschal eine gesellschaftliche Gruppe zu benennen. Nach der Silvesternacht war für Berlin sehr schnell von Migranten die Rede. Zunächst einmal hatten wir es offenkundig mit einer teils hoch gewaltbereiten – vermutlich männlich geprägten – Gruppe zu tun, die sich massiv gegen die staatlichen Institutionen gewendet hat. Es steht zu vermuten, dass es sich überwiegend um Menschen aus eher prekären, bildungsferneren Milieus handelt, in denen das staatliche Gewaltmonopol kaum akzeptiert ist bzw. verachtet wird. Eins darf man dabei nicht unterschätzen: Auch politische Gruppen des rechts- und des links­extremistischen Spek­trums stehen staatlichen Institutionen ablehnend gegenüber, sie betrachten sie als Feinde. Nicht nur Rettungskräfte und Polizisten, sondern auch Journalisten werden von extremistischen Gruppen gezielt angegriffen.

Und welche Rolle spielen Migranten in solchen Situationen?

Offenbar waren Migranten auch an den Übergriffen beteiligt, aber eben nicht ausschließlich. Viele Migranten sind gut inte­griert und Teil dieses Landes. Es muss sauber differenziert werden zwischen einer kleinen, gewaltbereiten Gruppe, die demokratische Institutionen bewusst ablehnt und dem Großteil der Zugewanderten, der dies wohl kaum billigen dürfte. Was zudem gern übersehen wird: Zwar gibt es eine Überrepräsentation an Straftätern mit Migrationshintergrund, aber das lässt sich zu einem nicht unerheblichen Teil durch den sozialen Hintergrund erklären. Denn wir wissen schon sehr gut, dass Migranten tendenziell häufiger bildungs- und einkommensschwächeren Gruppen angehören. Insbesondere in patriarchalisch geprägten Kontexten, die von einer schwachen Sozialstruktur gekennzeichnet sind und in denen Gewalt als akzeptiertes Regulativ gilt, steigt das Risiko, polizeilich auffällig zu werden. Das ist aber eine kleine Gruppe innerhalb der Migranten. Aus der Gewaltforschung wissen wir, dass Bildung und sozialer Stand einen zentralen Einfluss auf Gewalthandlungen haben.

Das heißt, höhere Strafen, wie sie aus der Politik schnell gefordert wurden, sind nicht sinnvoll?

Ich halte solche Diskussionen für unangemessen. Wir wissen, dass Bildung und Integration entscheidende Faktoren sind. Das gilt übrigens nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund, die zwar tendenziell schwächeren sozialen Gruppen angehören, sondern auch für deklassierte Deutsche. Daher muss man fragen: Wie kann es gelingen, diese Menschen wieder näher an die Gesellschaft heranzuführen, dass sie sich wieder als Teil der Gesellschaft fühlen? Auch bei Pegida-Anhängern oder vielen Querdenkern gibt es – zumindest – dieses Gefühl, irgendwie nicht mehr richtig dazuzugehören. Und dieses Gefühl haben eben auch viele Menschen mit Migrationshintergrund. Über Jahrzehnte hat man sich dagegen gewehrt, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist, obwohl wir schon lange eine hohe Zuwanderungsquote haben. Politisch wurde das von verschiedenen Parteien abgelehnt und das hat nicht dazu beigetragen, ein besonders freundliches Integrationsklima zu schaffen.

Heute haben wir z. B. Pro­bleme mit der Clan-­Kriminalität, die in den Medien immer besondere Aufmerksamkeit findet. Das sind vielfach Nachfahren der sogenannten Gastarbeiter aus den 1970er- usw. Jahren. Damals hat sich niemand Gedanken gemacht, wie die hier Fuß fassen können, weil man davon ausging, dass sie das Land nach einer Zeit wieder verlassen. Das war aber nicht der Fall. Aber wenn man solchen Menschen keinen Zugang eröffnet, damit sie sich hier heimisch fühlen, ist die Gefahr groß, dass sie sich anderen Zusammenhängen zuwenden. Das Problem sehe ich im Moment wieder: Wir haben viele Flüchtlinge im Land. Da­runter sind etliche, die mit einer höheren Belastung kommen, aus Kriegsgebieten oder aus schwierigen sozialen Kontexten. Das sind Leute, die hierbleiben werden.

Da muss man sich bildungs- und integrationspolitisch schon Gedanken machen: Wie gelingt es, dass diese Menschen sich als integraler Bestandteil der Gesellschaft fühlen? Wenn ich das richtig beobachte, gibt es einen demografischen Wandel und einen massiven Mangel an Arbeitskräften. Damit ist der Sozialstaat langfristig gefährdet. Allein unter diesen Gesichtspunkten muss sich der Staat fragen, wie diese Menschen stärker eingebunden werden können. Letztlich kann es nicht nur um Geldleistungen, sondern es muss um Zugänge gehen.

Aber bei den Nachfahren der Gastarbeiter ist es doch offenbar nicht gelungen, obwohl sie hier geboren, hier groß geworden sind und deutsche Kindergärten und deutsche Schulen besucht haben. Was kann man denn noch tun?

Es ist teilweise nicht gelungen, das stimmt. Andererseits sehe ich selbst als Hochschulprofessor, dass wir heute mehr Migranten an der Hochschule haben als noch vor zwanzig Jahren. Es gibt sie also durchaus, die Aufstiege und die Integrationserfolge. Dennoch gibt es große Probleme bei den Zugängen zum Arbeitsmarkt beispielsweise. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, seit ­PISA und länger, dass der soziale Stand und der Bildungsstand stark zusammenhängen und zu den sozial schwächeren Ständen gehören öfter Menschen mit Migrationshintergrund. Sie bekommen seltener eine Gymnasialempfehlung und studieren seltener. Das ist weiterhin ein großes Problem! Das deutsche Bildungssystem ist tendenziell eher ständisch, also kaum durchlässig. Das ist von der Politik nie konsequent angegangen worden.

Bislang ist es nur sehr begrenzt gelungen, Gruppen aus eher bildungsfernen Milieus einen systematischen Bildungsaufstieg zu ermöglichen. Und dann kann die Rückbesinnung auf die Herkunftskultur identitätsstiftend sein, denn viele derjenigen, die hier als zweite oder dritte Generation aufgewachsen sind, haben eine diffuse Identität: zum einen das Land, in dem sie geboren sind, zum anderen das Herkunftsland der Eltern. Wenn dann die Bildungswege nicht gelingen, ein Aufstieg kaum möglich ist, sich keine rechte Zugehörigkeit einstellt, kann das dazu führen, das Land, in dem man aufgewachsen ist, infrage zu stellen. Ist das Umfeld zudem prekär, werden dort autoritäre statt demokratische Haltungen vertreten und mag Gewalt als positiv besetzt gelten, vielleicht auch durch die Einbindung in deviante Gruppen, führt das zu gravierenden Identitätskonflikten. Da­rüber müssen wir uns Gedanken machen.

Wer ist „wir“, also wer ist konkret gefordert?

Alle, besonders die Politik. Im Bereich der Migration gibt es ein sehr breites zivilgesellschaftliches Engagement, das muss man deutlich unterstreichen. Aber letzten Endes ist der Aufstieg aus sogenannten deklassierten Gruppen abhängig von dem Bildungswesen, das der Staat anbietet. Noch mal: Es geht um Zugänge. Die Frage muss lauten: Wie kann es gelingen, Menschen aus bildungsfernen, teils demokratiefernen Schichten einen Bildungsaufstieg und damit auch einen gesellschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen?

Aber in den Schulen fängt das Problem ja schon an: dass Kinder aus Migrationsfamilien durch ihr Verhalten negativ auffallen.

Man muss sehen, dass sie teils aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen – und aus ganz anderen kulturellen Zusammenhängen. Wir leben hier seit Generationen in einem demokratischen Land. Demokratie muss man lernen, auch wir Einheimischen mussten und müssen es immer wieder. Und heute fremdeln auch Einheimische mit ihr. Ich finde es etwa überaus bedenklich, wie wenige Menschen sich mittlerweile an Wahlen – der Grundlage der Demokratie – beteiligen. Die Konzentration auf die Silvesterkrawalle sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass uns die Demokratie aus den Händen gleiten könnte.

Es gibt Milieus, in denen eine gewisse Staatsferne zu beobachten ist, teils eine Ablehnung demokratischer Institutionen, weil vielleicht der Mehrwert der Demokratie nicht mehr gesehen wird oder es gar kein Interesse daran gibt. Bildung ist dann auch nicht mehr erstrebenswert. Wenn Kinder in diesen Milieus sozialisiert worden sind, in denen vielleicht auch noch Männlichkeitsstereotype vermittelt werden, kann es zu Konflikten mit den Lehrkräften kommen. Das betrifft aber wie schon gesagt nicht nur Migranten. Die Demokratie-­Entleerung in unserem Land ist ja nicht gerade gering. Daher müssen wir überlegen, wie wir die Menschen (wieder) für demokratische Strukturen begeistern können. Dazu gehören auch Respekt vor den In­stitutionen und im Idealfall die Überzeugung, Demokratie als Mehrwert zu begreifen.

Sehen Sie da die Kirchen in der Pflicht?

Auf jeden Fall! Das sollte ein zen­trales Betätigungsfeld für die Kirchen sein. Den konfessionellen Einrichtungen kommt eine große Bedeutung zu, besonders der kirchlichen Jugendarbeit. Sie hat neben der Jugendsozialarbeit den fundamentalen Auftrag, Bildung an junge Menschen heranzutragen. Daher ist es eine ganz wichtige Aufgabe für die Kirchen, die Jugendarbeit zu stärken, damit sie mehr noch als bisher an solche Milieus heran­kommt. Das wäre sehr wünschenswert. Leider ist die in­stitutionelle Jugendarbeit rückläufig. Sie hatte ihre große Zeit in den 1980er-/1990er-­Jahren. Heute ist es schwerer geworden, junge Menschen zu erreichen, weil die Angebotsvielfalt, auch durch das Internet, die sozialen Medien und die Individualisierung so groß geworden ist. Aber da würde ich mir wünschen, dass die Jugendarbeit neue Angebote entwickelt und dass sie ihren Demokratisierungs- und Bildungsauftrag, den sie ohne Zweifel hat, ernst nimmt und sich in gesellschaftliche Debatten einmischt.

Mit Prof. Winands sprach ­Claudia Auffenberg

Info zur Person

Dr. Martin Winands ist seit 2018 Professor für Sozialwesen an der ­KatHO NRW in Paderborn. Seit vielen Jahren befasst er sich mit Konflikt- und Gewaltforschung. Promoviert hat er in Devianz-­Pädagogik, die sich Kindern und Jugendlichen in Krisen widmet.

Martin Winand über Gewalt und Vorbeugung

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