„Einsamkeit ist nicht ans Alter gebunden“, sagt Christiane Voß

Seit 2012 leitete Christiane Voß die Ehe-, Familien- und Lebensberatung. Zum Jahresende geht sie in den aktiven Ruhestand. Ein Gespräch mit ihr über unser aller Sehnsucht nach einer heilen Welt, veränderte Gesellschaftsmodelle und das große Problem unserer Zeit: Einsamkeit.

Frau Voß, ist Ihnen – abgesehen von Werbespots – schon mal eine heilige Familie begegnet?

Christiane Voß: „Nein.“

In diesen Spots wird die Familie sehr zelebriert, gerade jetzt zu Weihnachten. Ist das aus Ihrer Sicht ein Pro­blem?

Christiane Voß: „Ich finde schon, denn so wird suggeriert, dass es eine heile Welt gibt. Aber wenn ich die Nachrichten sehe, gibt es sie eben nicht. Was man dort sieht, betrifft uns in der Regel zwar nicht unmittelbar, aber es gibt auch das Wort „Unter jedem Dach ein Ach“. Und das erlebe ich auch so. Eine Familie, wie man sie schon in der Rama-Werbung sehen konnte, Mutter, Vater, zwei Kinder – Junge und Mädchen – und ein Golden Retriever, wünscht sich jeder. Auch die Romantikkomödien sind gerade zu Weihnachten sehr beliebt, weil sie immer erzählen: Egal, wie schlimm es ist, am Ende geht es gut aus. Das ­wünschen wir uns – ich auch, klar!“

Und was ist die Realität?

Christiane Voß: „Dass wir jeweils ganz andere Voraussetzungen finden, schon, wenn wir auf die Welt kommen. Das eine Kind ist ein Wunschkind, das andere vielleicht eher nicht. Das eine Kind trifft auf liebevolle, feinfühlige Eltern, die es hegen und pflegen, das andere Kind ist eher anstrengend, schwierig und stört die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein Kind ist am Anfang seines Lebens existenziell abhängig von seinen Eltern. Es kann nicht laufen, nicht sitzen, nicht sprechen. Es kann sich nicht selbst ernähren, es ist den Eltern absolut ausgeliefert. Die einen Eltern sind toll und gehen sehr genau auf die Regungen des Kindes ein, die anderen Eltern können es gar nicht wahrnehmen, weil sie vielleicht krank sind. Eine depressive Mutter kann kaum feinfühlig reagieren. Da bekommt das Kind nicht den liebevollen Blick, den es braucht. Und es sucht dann sein ganzes Leben diesen Blick – auch in späteren Beziehungen.“

Was den Partner oder die Partnerin überfordert.

Christiane Voß: „Ja, oft finden sich zwei, die ein ähnliches Motiv haben. Wir alle haben Grundbedürfnisse: Wir möchten Anerkennung haben, Wertschätzung, sichere Grenzen, Autonomie. Meistens sind ein, zwei davon das Lebensthema, das sich durchzieht. Das Leben gibt einem viele Aufgaben, bei deren Bewältigung man sich an diesem Thema abarbeitet. Am Ende des Lebens ist man hoffentlich damit durch, damit man es nicht an die Kinder weitergibt. Es gibt die transgenerationale Weitergabe von Lebensthemen.“

Was heißt das?

Christiane Voß: „Ein Beispiel: Für die Generation, die den Zweiten Weltkrieg und den Hunger erlebt hat, wird es ein Riesenbedürfnis sein, zu Weihnachten die Gans auf dem Tisch zu haben. Deren Enkelkinder sehen das aber womöglich anders, weil sie Vegetarier sind oder vegan. Die Oma trifft das sehr. Das ist jetzt mal ein eher undramatisches Thema, es gibt viel Dramatischere: Flucht, Gewalterfahrungen. Wenn die nicht besprechbar waren oder sind, werden sie weitergegeben. Das gilt auch für Erziehungsvorstellungen oder Familienmodelle. Als meine Kinder klein waren, gab es keine Elternzeit. Ich konnte damals meine Berufstätigkeit aufgeben, denn es gab auch keine Kinderbetreuung. Der Kindergarten hatte von 8 bis 12 Uhr geöffnet. Die Frau gehörte also, so das Bild damals, zu den Kindern, der Mann verdiente das Geld. Dieses Bild hat sich heute komplett verändert. Früher haben die Frauen die Zeche bezahlt und bekommen heute eine schlechte Rente. Heute zahlen die Kinder, indem sie viel zu lange fremd betreut werden. Kinder haben ein natürliches Bindungsbedürfnis an ihre Eltern. Wenn sie sehr früh in fremde Kontexte kommen und das sehr lange am Tag, sind sie damit überfordert.“

Sie kritisieren also, dass Kinder teils schon mit einem halben Jahr in die Kita kommen und da den ganzen Tag bleiben. Da könnte man Ihnen vorhalten, das sei doch ein reichlich konservatives Familienbild.

Christiane Voß: „Es speist sich allerdings aus der Bindungsforschung.“

Das heißt, wir züchten uns jetzt ein Problem für die Zukunft?

Christiane Voß: „Die Beratungsstellen werden wohl nicht arbeitslos.“

Noch mal zu der Weihnachtsgans: Die Oma kann ja vielleicht gar nicht sagen, warum sie so sehr daran hängt. Und selbst wenn sie sagt, damals im Krieg hätte es nichts gegeben, wird die vegane Enkelin genervt die Augen verdrehen …

Christiane Voß: „… und beklagen, dass die Oma wohl noch nie was von Nachhaltigkeit und vom Klimawandel gehört hat. In den meisten Fällen läuft der Dialog zwischen den Generationen gut, aber es gibt Themen, bei denen das Verständnis für den Zusammenhang der jeweiligen Lebensphase fehlt. Wenn ich meinen Kindern heute erzähle, dass ich zur Zeit unserer Hochzeit meinen Mann fragen musste, ob ich berufstätig sein darf, verdrehen die auch die Augen. Die gesetzlichen Änderungen, die mehr Freiheit für die Frauen brachten, kamen ja erst Ende der 1970er-­Jahre. Im französischen Bürgertum war es übri­gens üblich, dass Frauen ihre Kinder weder gestillt noch aufgezogen haben, sondern die kamen zur Amme aufs Land und kehrten erst als Erwachsene zurück. Die Frauen hatten damals andere Aufgaben, Repräsentationspflichten etwa, und das war völlig normal.“

Wären die Kinder heute Ihre Klienten? Stichwort: Bindung.

Christiane Voß: „Wenn sie eine liebevolle Ersatzfamilie gefunden haben, dann nicht. Die Bindung muss nicht die leibliche Mutter gewährleisten, das kann auch ein anderer Mensch tun. Die leiblichen Eltern sind natürlich ideal, weil das Kind schon vorgeburtlich deren Stimmen und Gerüche kennt und das schafft eine andere Beziehung.“

Sie beraten in Ehe-, Familien- und Lebensfragen. Was sind die Lebensfragen, mit denen Menschen zu Ihnen kommen?

Christiane Voß: „Lebensberatung bezieht sich auf alles, was Erwachsene angeht. Das kann der Student sein, der seit Corona weder einen Hörsaal noch einen Kommilitonen gesehen hat, der in seiner Studentenbude vereinsamt ist und jetzt mühsam wieder Wege sucht, um Kontakte zu knüpfen. Vielleicht hat er in der Einsamkeit psychische Störungen entwickelt, weil eine ganze Lebensphase ausgeblendet worden ist. Das kann aber auch die völlig erschöpfte alleinerziehende Mutter sein, die nachts im Homeoffice gearbeitet und tagsüber ihre Kinder betreut hat, weil die nicht in den Kindergarten oder in die Schule konnten. Das kann aber auch ein älterer Mensch sein, der allein lebt, dem vor Einsamkeit die Decke auf den Kopf fällt und dessen einziger Kontakt nach außen der tägliche Weg zum Supermarkt ist.“

Drei Beispiele, die mit Einsamkeit zu tun haben. Das scheint ein großes Pro­blem zu sein. Wie kommt das? Wir sind doch auf allen möglichen Kanälen vernetzt wie nie.

Christiane Voß: „Es kommt auf die Qualität der Kontakte an. Ich kann mich den ganzen Tag beschäftigen oder mich in irgendwelchen ­Communitys aufhalten, aber das ersetzt nicht den persönlichen Beziehungskontakt. Ich brauche als Mensch ein Gegenüber, das mich wirklich ­beantwortet. Viele digitale Kontakte sind häufig eher oberflächlich. Menschen brauchen nicht nur ­Kontakte, sondern Beziehungen und manchmal einfach Hilfe.“

Ist Einsamkeit eher ein gesellschaftliches Problem oder das eines Einzelnen?

Christiane Voß: „Das ist ein gesellschaftliches Problem, deswegen müsste es die Gesellschaft auch lösen. In England etwa gibt es ein Ministerium für Einsamkeit, weil die dortige Gesellschaft das Pro­blem als solches erkannt hat.“

Was wäre ein Lösungsweg?

Christiane Voß: „Die Kirchengemeinden! In den pastoralen Räumen könnten sich Menschen – Haupt- und Ehrenamtliche – finden, die das anregen und statt einer „Komm-her“-­Struktur eine „Geh-hin“-­Struktur entwickeln. Es gibt inzwischen viele Angebote, Stadtteil-­Cafés oder Quartiersarbeit, das ist ein guter Weg. Wichtig ist, loszugehen. Das ist mühsam, aber erfolgsversprechend.“

Aber wie fängt man es an? „Angebote für Einsame“ zu machen, schreckt vermutlich eher ab.

Christiane Voß: „Da wird wohl keiner hinkommen, denn dann müsste man sich ja als einsam outen. Aber wie wäre ein Waffelstand vorm Supermarkt? Oder ein Angebot bei der Tafel oder an Schulen oder an der Uni?“

Beim Wort Einsamkeit denkt man unwillkürlich an alte Menschen im Seniorenheim. Ist der Gedanke richtig?

Christiane Voß: „Nein, Einsamkeit ist nicht ans Alter gebunden. Einsam kann auch ein Kind sein. Studien haben gezeigt, dass sich während der Corona-­Pandemie vor allem junge Leute einsam gefühlt haben.“

Wie würden Sie Einsamkeit definieren?

Christiane Voß: „Es ist das Gefühl, dass sich niemand für mich interessiert, dass es egal ist, wie es mir geht. Und dieses Gefühl kann man auch auf dem Weihnachtsmarkt, also unter vielen Menschen, haben. Einsamkeit ist die Kehrseite der Individualisierung. Wir leben hierzulande in einer hoch individualisierten Gesellschaft, was übrigens im überwiegenden Teil der Welt anders ist. Dort entscheidet eher das Kollektiv. Kollektive Gesellschaften haben eine andere Bindung zueinander. Das hat auch Nachteile, aber in einem Kollektiv ist man nicht so einsam. Das sieht man ja schon, wenn jemand aus einem ­anderen Kulturkreis ins Krankenhaus kommt. An dessen Bett ist viel mehr los, während bei uns die Patienten tagelang allein liegen.“

Wir sitzen hier in einer katholischen Beratungsstelle. Was unterscheidet Sie von anderen Beratungsstellen?

Christiane Voß: „Fachlich sicher nichts! Was uns unterscheidet, ist die Grundhaltung: Warum tue ich diese Arbeit? Ich bin bzw. war bewusst Mitarbeiterin einer katholischen Einrichtung, nicht weil ich jemanden missionieren will, sondern weil ich glaube, dass die Psychologie ihre Grenzen hat. Wenn ich abends nach Hause gehe, sage ich manchmal: Lieber Gott, ich tu mein Best’, tu du den Rest. Das gibt mir Sicherheit. Manche Menschen kommen gezielt zu uns, weil sie hoffen, dass sie mit uns Fragen danach, warum Gott das Leid zulässt, besprechen können. Wir haben da zwar auch keine Antwort, aber wir können das Leid mit aushalten, mitgehen, da sein. Das Aus – halten.“

Gibt es auch Menschen, die bewusst nicht kommen, weil Sie eine katholische Einrichtung sind?

Christiane Voß: „Manchmal machen Leute einen Termin und sehen erst, wenn sie kommen und unten vor dem Schild stehen, dass sie in einer katholischen Einrichtung gelandet sind. Zu Beginn sagen sie häufig: Aber ich werde hier jetzt nicht missioniert, oder? Dann heißt es für uns, eine gute Beziehung aufzubauen. Ich habe jedenfalls noch niemanden ­gesehen, der wieder gegangen ist.“

Hat sich die Krise der Kirche auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Christiane Voß: „Das ist eine Vertrauenskrise, die hohen Missbrauchszahlen und der Umgang damit sind für uns Mitarbeitende schwierig. Wir sind an der Seite der Opfer, denen wollen wir helfen, nicht den Tätern. Die müssen woanders hin. Zwar brauchen die auch Hilfe, aber das zu vermischen ist schwierig. Wenn es z. B. zu einer Begegnung im Wartezimmer käme, wäre das sehr ungünstig. Für diese Menschen gibt es spezialisierte Beratungsstellen. Da ziehe ich auch für mich persönlich eine Grenze. Ich möchte nicht mit Tätern zusammenarbeiten, die Kinder missbrauchen.“

Sie sind seit 1994 in diesem Beruf. Hat sich Ihr Blick auf das Leben dadurch verändert?

Christiane Voß: „Ja, ich bin fasziniert mit welcher Kreativität Menschen Lösungen für ihr Leben finden. Von den Klienten habe ich sehr viel gelernt. Ich interessiere mich nach wie vor für Menschen und ihre Ideen und ich bin flexibler geworden, mit den Ratsuchenden nach Wegen zu suchen.“

Und ganz persönlich gefragt: Können Sie das Leben besser bewältigen als andere?

Christiane Voß: „Sicher nicht! Ich habe dieselben Fragen, aber ich habe natürlich einen größeren Ressourcen­koffer, weil ich mich mit sehr, sehr vielen Lebensthemen aus­einandersetzen musste.“

Mit Christiane Voß sprach Claudia Auffenberg

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