Nie aufhören zu fragen – Interviewreihe in der Fastenzeit

Ohne Debatten keine lebendige Kirche: Der durchaus kontroverse Austausch über den Glauben – wie hier beim Synodalen Weg – ist für Dr. Gregor Haunerland unersetzlich. (Foto: KNA)

„Wie hältst du es mit der Religion?“, fragt das Gretchen den Dr. Faust. In Zeiten der Kirchenkrise fragen wir in der Fastenzeit bei Menschen der Kirche nach. In dieser Folge bei Dr. Gregor Haunerland, Sprecher der Meinwerk-­Gilde Paderborn. Mit Dr. Gregor Haunerland sprachen Claudia Auffenberg und Andreas Wiedenhaus.

Herr Dr. Haunerland, gibt es im Glaubensbekenntnis einen Satz, der Ihnen schwer über die Lippen kommt?

Beim gesamten Glaubens­bekenntnis komme ich immer wieder ins Stolpern: Das ist ja ein Text, der 1 600 Jahre alt ist, die deutsche Übersetzung ist auch nicht erst gestern entstanden. Das sind Chiffren, unter denen sich die Menschen vor 1 600 Jahren etwas anderes ­vorgestellt haben als ich heute. Ich muss mich also fragen, wenn ich das Glaubensbekenntnis aus Überzeugung ­mitsprechen und -beten will: Was verstehe ich darunter? Zum Beispiel unter „allmächtig“? Das heißt ja nicht, dass da ein Zauberer ist, der alles kann. Ebenso wenig bedeutet es, dass ich nur fest genug bitten muss, damit meine Wünsche erfüllt werden. Es gibt ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer: „Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen.“ Andere Begriffe erschließen sich uns heute nicht mehr so ohne Weiteres: etwa der „­eingeborene“ Sohn. Das hat ja mit unserer aktuellen Vorstellung von ­indigener Bevölkerung, wie wir Eingeborene heute übersetzen, nichts zu tun. Es bedeutet auch nicht „in die Menschheit ­hi­neingeboren“, sondern schlicht „unigenitus: einziger Sohn“. Es geht also kein Weg daran vorbei: Beim Glaubensbekenntnis wie beim Glauben überhaupt muss ich mir stets die Frage nach der Bedeutung stellen.

Das gilt sicherlich doch auch bei der „Jungfrau Maria“?

Die Jungfrauen-­Geburt ist nie mein Problem gewesen – auch wenn ich Gynäkologe bin. Dieses Dogma ist nur aus der Zeit heraus zu verstehen. Über ­Jahrhunderte ist es offensichtlich kein Problem gewesen, auf welche Weise Maria an ihr Kind gekommen ist. Selbst wenn ­Sexualität heute ein Thema ist, über das man offen spricht, hat es immer noch etwas Intimes. Warum muss sich der ­glaubende Mensch in die Intimität von Maria und Josef einmischen? Ich kann gut akzeptieren, dass da im Glaubensbekenntnis eine Aussage gemacht wird, die sich unserem Begreifen entzieht. Ich verstehe nicht alles auf der Welt! Und ob Maria in „unversehrter Jungfräulichkeit“ Jesus ­geboren hat, ist für mich nicht das ­Pro­blem: wobei sich die ­Frage stellt, ob ein Mensch durch einen Geschlechtsakt, der sich in Liebe vollzieht, „versehrt“ werden kann. Aber noch einmal: Das belastet mich nicht. Ich ­verstehe, dass der Mensch Maria von Gott in ganz besonderer Weise ge­adelt wurde.

Aber Sie haben sich immer wieder Ihre Gedanken zum ­Glaubensbekenntnis gemacht.

Natürlich! Und ich bin damit noch lange nicht fertig! ­Manches lässt mich auch nicht los, wie etwa der Begriff der ­katholischen Kirche. 

Inwiefern? 

Kirche ist für mich ein Heilszeichen Gottes, ein Sakrament. Etwas, das Werkzeug ist, um Menschen zu Gott zu führen; nicht das einzige, aber ein wichtiges; das ist mein Glaube. Wie sollen Menschen von der Liebe Gottes erfahren, wenn sich nicht eine Gruppe darum kümmert? Ohne Überlieferung, ohne Apos­tel wüssten auch wir nichts davon! Wenn wir von der katholischen, der allumfassenden Kirche sprechen, dann denken wir das in Deutschland immer in Abgrenzung zur evangelischen Kirche. Deshalb beten meine Frau und ich schon seit Jahren „christliche Kirche“. Das ist für uns eine angemessene Aussage. Ich glaube, wenn wir den Glauben als Menschen mit unserem Leben verkünden, tun wir das weniger als Katholiken oder Protestanten, sondern als Christen. 

Haben Sie eine Vorstellung von Gott?

Ich stelle mir Gott vor wie einen Vater, der „Wer kommt in meine Arme?“ ruft; wie der barmherzige Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn; was auch immer ich ausgefressen habe, wenn ich auf Gott zugehe, breitet er die Arme aus, so wie ich es mit unseren Kindern gemacht habe oder jetzt mit den Enkeln – ja, er rennt mir entgegen, und wenn ich bei ihm angekommen bin, wirft er mich in die Luft vor Freude und fängt mich wieder auf. 

Wie hat sich diese kritische Auseinandersetzung mit dem Glauben entwickelt?

Ich bin getauft worden, als ich eine Woche alt war, meine Mutter war noch im Krankenhaus mit mir, in der dortigen Kapelle fand die Taufe statt. Davon habe ich natürlich nichts mitbekommen. Aber meine Mutter hat uns Kinder in den folgenden Jahren immer mal wieder mitgenommen, wenn sie in die Kirche ging. Gottesdienstbesuch gehört für mich seit frühester Kindheit dazu. Ich bin früh zur Erstkommunion gegangen, ich war Messdiener, war in der Jugendarbeit aktiv. Wichtig war dabei immer, auf welche Menschen ich da getroffen bin. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich mit 16 oder 17 beim Jugendgottesdienst die Gemeinde mit den Worten „Guten Tag, meine Damen und Herren“ begrüßt habe. Ich durfte das, der damalige Kaplan bei uns in Essen hat das dem Pfarrer gegenüber, der anschließend Theater gemacht hat, verteidigt. Heute würde ich das nicht mehr sagen. Aber diese Erfahrung, etwas tun zu dürfen, auch wenn einem das vielleicht später selbst komisch vorkommt, war sehr wichtig: Da hatte jemand Vertrauen zu mir. Der Jugendseelsorger hat das auch in der anschließenden Auseinandersetzung verteidigt; wobei es natürlich nicht sein Vokabular war.

Das Provozieren, das Reiben am Hergebrachten war für Sie wichtig?

Es geht um das eigenständige Denken, unser Verstand ist Teil der Schöpfung! Ihn nicht zu benutzen, wäre falsch. Ob ich ihn immer richtig benutze, steht auf einem anderen Blatt. Der Verstand ist da, damit wir ihn anwenden, man darf ihn nicht ausblenden. Ich bin zwar kein studierter Theologe, aber dass ich mit meinem Verstand nach Gott frage – also theologisiere –, ist für mich selbstverständlich. 

Mit wem machen Sie das?

Überall, wo ich gelebt habe – erst als Jugendlicher, dann mit meiner Familie – haben wir zur jeweiligen Gemeinde gehört. Für mich setzt sich die Messe immer auf dem Kirchplatz fort: Wir können uns nicht einerseits Schwestern und Brüder nennen und uns andererseits aus dem Weg gehen. Mittlerweile gucken wir ja immerhin beim Friedensgruß nach rechts und links. Für mich gehört es einfach dazu, zumindest ein bisschen von seinem Leben zu teilen – nach der Messe oder bei der Vorbereitung von Gottesdiensten.

Welche Rolle spielt die Meinwerk-­Gilde in diesem Zusammenhang?

Diese Gilden sind nach dem Krieg ausgehend von dem Münchner Männerseelsorger Rupert Mayer entstanden: Ziel ist, „den Glauben in der Zeit und dem jeweiligen persönlichen Umfeld zu leben“. Die Menschen in solchen Gruppen wie der Meinwerk-­Gilde möchten ihr Leben aus dem Glauben gestalten. Das heißt auf der anderen Seite, den Glauben bei den Treffen immer wieder zur Sprache zu bringen: Beispielsweise haben wir ein Jahr lang bei jedem unserer monatlichen Treffen einen Psalm zum Thema gemacht. Reihum hat einer aus der Gruppe einen Psalm, der für ihn eine besondere Bedeutung hat, vorgetragen und dazu etwas gesagt. 

Wann hat dieses Reden über den Glauben begonnen?

In meinem Elternhaus wurde immer darüber gesprochen. Dabei ging es durchaus kontrovers zu. Mein Vater hat sich darüber gefreut, wenn es laut wurde, wenn lebhaft debattiert wurde. Sonntags war Zeit und Gelegenheit, zum Beispiel die Predigt des Pfarrers unter die Lupe zu nehmen. Während mein Vater sich freute, wenn es hoch herging, hat sich meine Mutter manchmal die Ohren zugehalten. Dieses Reden über Glauben und Kirche hat sich in unserer Familie mit unseren Kindern fortgesetzt. Heute sprechen meine Frau und ich darüber – zum Beispiel auch über die Editorials im Dom.

Welche Rolle spielt die Gemeinde?

Vor einem halben Jahr sind wir umgezogen, nach 18 Jahren in der Gemeinde St. Georg leben wir nun in St. Heinrich. Aus St. Georg habe ich mich verabschiedet. In unserer neuen Gemeinde knüpfen wir nun neue Kontakte. Zum Beispiel am Sonntag nach dem Gottesdienst, wenn auf dem Kirchplatz über die Predigt gesprochen wird. Das kann man nicht erzwingen, das muss auch nicht jeden Sonntag sein. Glaube muss geerdet sein, und das passiert in solchen Momenten. 

Glaube in Gemeinschaft ist das eine, welche Rolle spielt das persönliche Gebet für Sie?

Ich bete regelmäßig. Morgens beginne ich mit der Schrift­lesung, abends endet der Tag allerdings nicht immer mit einem Gebet. Aber der Morgen ist mir wichtig: nicht, weil ich denke, dass dieses Wort mich Stunde um Stunde begleitet, aber weil ich glaube, dass das Wort eine Kraft hat. Wenn man sich mit dem Wort Gottes beschäftigt, macht dieses auch etwas mit ­einem, davon bin ich überzeugt.

Welche Bedeutung hat der Glaube für Ihren Beruf als Arzt?

Ich hätte ohne kirchliche Jugendarbeit vielleicht Medizin studiert, aber ich wäre nicht Chefarzt geworden. Dort habe ich einiges für mein Berufsleben gelernt, zum Beispiel indem ich Führung üben konnte. Erfahrungen sammeln und Talente entdecken konnte ich dort. Die kirchliche Jugendarbeit war für mich prägend. Mag sein, dass andere das in der Feuerwehr oder im Sportverein entdecken. Ich habe im Beruf nie einen Hehl aus meinem Glauben gemacht, habe ihn aber auch nicht vor mir hergetragen. 2002 hat das Evangelische Johannisstift hier in Paderborn eine Stelle ausgeschrieben. Ich habe mich beworben, ­obwohl ich die Vo­raussetzung, der evangelischen Kirche anzugehören, nicht erfüllte. Beim Vorstellungsgespräch kam dann die Frage, ob ich mit der Schwangerschaftsberatung von der Diakonie zusammenarbeiten würde. In Sachen Beratung war das für mich kein Problem, bei möglichen ­Schwangerschaftsabbrüchen war für mich klar, dass ich das nicht machen würde.

Eine deutliche Haltung. Wo­ran erkennen andere Menschen ­außerdem, dass Sie Christ sind?

Da spielt der Umgang mit Fehlern für mich eine zentrale Rolle: und zwar der mit den Fehlern anderer und der mit den eigenen. Das Eingestehen ist ein Punkt, ein anderer die Chance eines neuen Anfangs – für den anderen und für mich selbst. Diese Bedeutung hat „Leben aus dem Glauben“ während meines gesamten Berufslebens für mich gehabt.

Wobei Fehler in Ihrem Beruf schwerwiegende Folgen haben können.

Bei Katastrophen, wenn ein Mensch bei der Geburt oder einer Operation verstirbt, ist es meistens so, dass verschiedene Faktoren zusammenkommen. Es ist aber auch so, dass nicht jeder Tod auf einen konkreten Fehler zurückgeht. Das muss man wissen. Was nichts daran ändert, dass es Momente sind, in denen man als Mensch an seine Grenzen kommt.

Wie kann man es als Arzt lernen?

Im Johannisstift wurde vor gut zehn Jahren eine Ethik-­Kommission installiert. Auslöser war eine Auseinandersetzung mit einem Kollegen, der der Meinung war, dass man einen Menschen so lange behandeln muss, wie es eben möglich ist. In meinen Augen eine ethisch nicht vertretbare Haltung: Wir müssen einen Menschen auch sterben lassen können. Das ist natürlich ein schwieriges Thema, aber eine Behandlung fortzusetzen, nur weil es technisch möglich ist – das ist der falsche Weg. Mit einer Therapie das Leben ein kurzes Stück zu verlängern, wenn das Sterben nicht aufzuhalten ist, ist aus meiner Sicht medizinisch falsch. Das Thema ist sehr kompliziert, aber in Würde sterben zu dürfen, ist ein hoher Wert.

Welche Rolle spielt der Glaube für Sie bei diesen Überlegungen?

Als Christ kann ich bei den Entscheidungen in meinem Leben nicht differenzieren zwischen denjenigen, bei denen der Glaube eine Rolle spielt und anderen. Beim Bonifatiuswerk gab es vor einiger Zeit einen Aufkleber „Glaube ist meine Identität“. Den habe ich mir auf mein Fahrrad geklebt, denn dieser Satz trifft es genau!

Sie sind ein Mann des offenen Wortes. Die Kirche wird von Skandalen erschüttert. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ihr den Rücken zu kehren, auszutreten?

Nein, das könnte ich nicht!

Warum nicht?

Wir gehören zusammen als Christen, das ist wie in einer Familie, aus der man auch nicht austreten kann. Wenn Verbrechen geschehen sind, müssen die genannt, verfolgt und geahndet werden – das ist keine Frage. Aber das ändert nichts daran, dass ich zu dieser Gemeinschaft gehöre, das geht nicht anders!

Wie beurteilen Sie das Vorgehen dieser Gemeinschaft in der derzeitigen Krise?

Nicht immer geschickt, aber im Synodalen Weg sehe ich ganz klar das Wirken des Heiligen Geistes. Wir wissen nicht, wohin dieser Prozess uns führt, aber dass er geschieht, ist ein gutes Zeichen. Es ist kein Zufall, dass Menschen außerhalb des Klerus verlangen, mitentscheiden zu können. Wenn Kardinal Woelki in Köln im Amt bleibt, dürfte Paderborn das nächste deutsche Bistum sein, das einen neuen Bischof bekommt – und ich bin gespannt, wie die Laien dabei beteiligt werden. Es kann sein, dass wir auf unserem Weg in einer Sackgasse landen. Trotzdem müssen wir es versuchen; Gott ist auch heute bei seiner Kirche!

Ohne Debatten keine lebendige Kirche: Der durchaus kontroverse Austausch über den Glauben – wie hier beim Synodalen Weg – ist für Dr. Gregor Haunerland unersetzlich. (Foto: KNA)

Zur Person

Dr. Gregor Haunerland wurde 1953 in Essen geboren. In Paderborn war der Gynäkologe zuletzt Chefarzt am Evangelischen Johannisstift. Der Vater von vier Kindern engagierte sich unter anderem im Pfarrgemeinderat. Heute ist er ehrenamtlich für die Ärztekammer NRW aktiv und Sprecher der Meinwerk-­Gilde Paderborn

Info

„Wer soll das noch glauben?“ heißt unsere Interview-­Reihe in der Fastenzeit. Die Kirchenkrise bringt viele Menschen, vor allem ältere, ins Nachdenken: Was hat man uns früher in der Kirche, etwa in der Christenlehre, erzählt? Stimmt das eigentlich alles? Dabei geht es nicht nur um Kirchengebote, die aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar sind, wie etwa das Nüchternheitsgebot, sondern auch um wesentliche Glaubensinhalte. Bücher gibt es zu alldem genug. Wir fragen nach bei Menschen, die ehrenamtlich für diese Kirche stehen. 

Das gesamte Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Dom.

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