20.01.2022

Interview mit Thomas Sternberg – Wann ist Kunst christlich?

Zweite Synodalversammlung des Synodalen Weges. Die beiden Präsidenten des Synodalen Weges, Bischof Georg Bätzing und Prof. Dr. Thomas Sternberg äussern sich auf der Zweiten Synodalversammlung im Congress Centrum Frankfurt. (Foto: Synodaler Weg / Maximilian von Lachner)

Eigentlich sollte Thomas Sternberg, ehemaliger Präsident des Zentralkomitees der deutschen ­Katholiken (ZdK) und jetzt Präsident der Kunststiftung NRW, beim Dreikönigssempfang der Katholischen ­Akademie in Schwerte sprechen. Doch der fiel coronabedingt aus. Ein Videogespräch über die Kunst. Mit Thomas Sternberg sprach Claudia Auffenberg.

Herr Prof. Sternberg, Sie wollten beim Dreikönigsempfang der Akademie über die natürliche Nachbarschaft von Religion und Kunst sprechen. Aber wenn man darüber einen Vortrag halten muss, ist die Nachbarschaft vielleicht doch nicht so natürlich?

In dieser Kirche in Grevenbrück ist Thomas Sternberg gewissermaßen groß geworden – rechts im Fenster die Kreuzigungsdarstellung, die ihm bis heute vor Augen ist. (Foto: Auffenberg)

Thomas Sternberg: „Es gab mal die These, dass sich Kunst und Religion seit Anfang des 19. Jahrhunderts völlig auseinanderentwickelt hätten und die Kunst einen ganz eigenen Weg gegangen sei. Das hat sich aber inzwischen durch einen genaueren Blick deutlich relativiert. Es sind auch im engeren kirchlichen Raum großartige Dinge möglich gewesen, etwa in den 1950er-­Jahren in Frankreich von Matisse bis Fernand Léger. In Deutschland gab es in der Nachkriegszeit einen regelrechten Kirchenbauboom mit großartigen Architekturen; in der Musik sehen wir Komponisten wie Olivier Messiaen oder Arvo Pärt.

Wenn man das betrachtet, erkennt man: Die These, Kunst und Religion hätten nichts mehr miteinander zu tun, stimmt nicht. Aber es gibt durchaus so etwas wie eine verlorene Nähe. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Künste und Religion in früheren Jahrhunderten miteinander zu tun hatten, war nicht mehr da. Noch in den 1970er-­Jahren gab es bei Künstlerinnen und Künstlern das Gefühl: Wenn du dich zu sehr mit Kirche einlässt, wirst du in deiner eigenen Szene nicht mehr ernst genommen.“

Und dieses Gefühl haben die Künstler heute nicht mehr?

Thomas Sternberg: „Nein! Für die bildende Kunst konnte unter anderem eine Ausstellung beim Katholikentag 1980 in Berlin diese Vorstellung, die schon immer töricht war, aufbrechen. Dort wurde deutlich, dass es auch eine Nähe von Künstlerinnen und Künstlern zur Religion gegeben hat, die übersehen wurde, weil sich die kirchliche Wahrnehmung auf das konzentrierte, was man „christliche Kunst“ nannte. Kandinsky etwa machte keine christliche Kunst, aber in seiner Kunst gibt es religiöse Themen. Religiöses ist allerdings vor allem für die sichtbar, die einen religiösen Blick auf die Werke haben. Als eingefleischter Atheist wird man ein Werk anders sehen, als wenn jemand mit einem christlich motivierten Blick auf die Arbeit schaut. Und es kommt auf die Umgebung an: Wenn ich ein Kunstwerk in einen Kirchenraum hänge, wird es anders gelesen, als wenn es im Museum hängt.“

Beim Begriff christliche Kunst denkt man zunächst an Werke, die man aus der eigenen Kirche kennt: Kreuze, Heiligenfiguren, Altarbilder etc. Die haben aber in der Szene oft einen eher schlechten Ruf und gelten als „Ausstattungskunst“. 

Thomas Sternberg: „In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als so viele Kirchen gebaut wurden wie nie zuvor, hat man zwar immer darauf geachtet, die besten Architekten zu bekommen. Doch bei den bildenden Künstlern hat man eher gefragt: „Sind die kirchlich genug, sind die gläubig genug? Bilden die wirklich ab, was wir sagen wollen?“ Das hat zum Teil zu minderwertigen Produktionen geführt. Aus Sicht der Kunst muss man aber auch sagen: Bis in die 1990er-­Jahre hinein hatte angewandte Kunst insgesamt einen schlechten Ruf.

Ein Beispiel ist Johannes Schreiter. Er war mit seinen Brandcollagen auf der documenta vertreten, aber als er sich auf Kirchenfenster konzentrierte, wurde er kaum mehr wahrgenommen. Erst als Gerhard Richter ein Fenster für den Kölner Dom gemacht hat, bemerkte man, dass es in Deutschland eine bedeutende Geschichte von moderner Glaskunst gibt – mit erstklassigen Arbeiten von weltweiter Bedeutung. Aber lange Zeit wurde alles, was „angewandte“ Kunst war, nicht wie die „autonome“ Kunst bewertet.“

Die Werke in den Kirchen sind den Menschen sehr ans Herz gewachsen. Spielt diese Zuneigung der Leute für die Kunst­szene keine Rolle? 

Thomas Sternberg: „Wenn man sich mit Kunst im Kirchenraum beschäftigt, sollte man die Werke, die dort vorzufinden sind, sehr ernst nehmen. In einer Gemeinde müsste es gelegentlich Predigten und Erklärungen zu Kunstwerken im Raum geben, denn die haben die Menschen vor Augen und sie prägen ihren Glauben. Die Kreuzigungsdarstellung in meiner Heimatgemeinde St. Nikolaus in Grevenbrück, ein Glasbild aus den 1930er-­Jahren, habe ich heute nach wie vor als Erstes vor Augen, wenn ich an die Kreuzigung denke, denn es hat mich durch meine ganze Kindheit begleitet. Natürlich gibt es da auch problematische Bilder: Da gibt es Darstellungen von Gottvater, weil die vor sechshundert Jahren in der Kunst gegen jede Theologie geschaffen wurden. Die können den Glauben an die erste göttliche Person, die selbstverständlich weder Geschlecht noch Alter noch irgendwelche menschlichen Züge hat, eher verstellen als fördern. Darüber muss man sprechen.

Und man muss deutlich machen, dass bis ins 14. Jahrhundert hinein die erste göttliche Person nur in der Person Jesu dargestellt worden ist: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ Der Weg zum Vater über den Blick auf den Sohn muss vermittelt werden. Aber auch: Wo gibt es Heiligenfiguren, über die man etwas erzählen kann, wo gibt es Bilder, die den Leuten ans Herz gewachsen sind? Die sollte man nicht rauswerfen, sondern darüber sprechen und sie ernst nehmen.“

Dann gibt es Bilder, die die Glaubensvorstellung so sehr geprägt haben, wie etwa das Abendmahl von Leonardo da Vinci, dass sie fast damit verwechselt werden, also das Verwendungen z. B. in der Werbung auf manche Menschen blasphemisch wirken.

Thomas Sternberg: „Manche Bilder gehören zum Grundbestand unserer Kultur und dass damit gespielt wird, ist zu erwarten. Heute muss man eher rückwirkend denken: Ist alles noch so zu verstehen, wie es mal gemeint war? Manche Motive haben sich durch massenhafte Wiedergaben abgenutzt und verändert. Bis ins 19. Jahrhundert konnten die Menschen Bilder fast nur in Kirchen sehen. Im Haushalt gab es vielleicht ein Gebetbuch mit einem Holzschnitt vorn auf den ersten Seiten. Öffentliche Museen gab es nicht. Im 19. Jahrhundert kam dann die Möglichkeit der Reproduktion auf und man konnte sich Bilder für das eigene Heim kaufen. Das war ein florierender Wirtschaftszweig.

Und da gab es in der Kategorie „Schlafzimmerbilder – religiös“, z. B. das Bild des Guten Hirten. Das kennen manche vielleicht noch von den eigenen Großeltern. Das war vor allem in dem Stil gemacht, der damals Mode war, im religiösen Bereich war das Nazarenerstil. Da gibt es sicher auch große Kunst, aber auch sehr viel Minderwertiges, das unser religiöses Bildgedächtnis massiv geprägt hat. In dieser Zeit ging die Entwicklung von Kirche und Religion auseinander. In der Kirche hat man neue Kunstentwicklungen nicht wahrgenommen und sich auf die Eigenwelt einer „Christlichen Kunst“ konzentriert.“

Was genau ist denn christliche Kunst? 

Thomas Sternberg: „Das ist genau die Frage! Lange verstand man darunter nur solche Werke, die offiziell kirchlich beauftragt waren und ausdrücklich christliche Themen zeigen. Das aber ist ein verhängnisvoller Fehler, denn wenn man so denkt, übersieht man, wie viele christliche Motive in „profaner“ Kunst vorkommen. Wenn es um Leiden und Krieg geht, erkennen wir häufig Kreuze. Und in Werken von Vincent van Gogh etwa stecken viele christliche Themen ohne die klassischen Motive. Die Kategorisierung „christliche Kunst / nicht christliche Kunst“ hat sich heute zum Glück aufgelöst. So kann ich heute vor einem Fenster von Gerhard Richter stehen und erkennen, dass das, was ich da sehe, mit meinem Glauben zu tun hat, auch wenn kein Märtyrer abgebildet ist.“

Aber um das zu erkennen, muss man, wie Sie eben schon sagten, im eigenen Glauben relativ trittfest sein.

Thomas Sternberg: „Das muss ich auch dann, wenn die Bilder etwas unmittelbar Christliches darstellen! Eine Krippe können die meisten noch identifizieren, die Kreuzigung auch, aber ein Bild, das einen Mann und eine Frau im Gespräch an einem Brunnen zeigt? Wer identifiziert das als Gespräch Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen und seine Rede vom lebendigen Wasser? Auch die christlichen Themen in der christlichen Kunst erklären sich nicht von selbst, das haben sie übrigens nie!

Es ist ein großer Irrtum, dass Bilder etwas waren für die, die nicht lesen können, wie man das lange für die „Biblia pauperum“ behauptet hat. Die Bilderzyklen, die „Armenbibeln“ heißen, sind hoch komplex und man muss schon sehr viel wissen und lesen, um die Bilder zu verstehen. Wer soll ohne Vorkenntnisse eine Frau mit einem Turm in der Hand als heilige Barbara identifizieren? Bei abstrakteren Bildern muss man sich vielleicht etwas freier einlassen auf Gedankengänge, auf Überlegungen des Künstlers, die aber nicht eindeutig festgelegt sind. Das macht die Sache kompliziert.“

Wenn ein Künstler eine Frau mit Turm in der Hand darstellt, kann man davon ausgehen, dass er die heilige Barbara kennt und sie wollte. Aber ein Gerhard Richter hat doch zunächst mal kein biblisches oder christliches Motiv vor Augen. 

Thomas Sternberg: „Da sind wir bei der Frage: Was ist ein offenes Kunstwerk? Auch Künstler, die sich dezidiert mit einem christlichen Thema beschäftigen, verraten das nicht immer, weil sie nicht unbedingt ein christliches Thema überbringen wollen. Sie sagen vielmehr: Ich schaffe ein Werk und das soll unabhängig von einer Person wirken. Der Künstler Ben Willikens, der in Anlehnung an Leonardos Abendmahl ein Bild mit einem leeren Tisch und einer Lichterscheinung im Hintergrund geschaffen hat, hat dazu einmal gesagt: „Ich schaffe eine Bühne, die der Betrachter bespielen kann. Aber ich bitte da­rum: Hinterher wieder aufräumen.“ Also nicht zu eindeutig interpretieren und bei anderen andere Empfindungen zulassen.

Kunst setzt Gefühle und Gedanken frei. Es geht nicht darum, herauszufinden, was dargestellt sein soll, sondern wie es mich anspricht, was es in mir auslöst. Das gilt übrigens auch für die Musik. Wenn ein Musikstück mich in eine andere Dimension trägt, dann erlebe ich das, was die Theologie „transzendieren“ nennt – über sich hinausgehen. Solche Kunsterlebnisse sind ganz nah an einer religiösen Empfindung: Ich empfinde, dass da etwas ist, ohne es benennen zu können.“

Das heißt: Ein religiöser Mensch braucht Kunst? 

Thomas Sternberg: „Ob der einzelne Gläubige Kunst braucht, weiß ich nicht. Aber wir als Kirche brauchen Kunst.“

Wozu?

Thomas Sternberg: „Weil der religiöse Inhalt sich nicht allein in Texten und Begriffen erschöpft. Da sind wir bei einem Kernpunkt der europäischen Kunst- und Bildgeschichte. In der Ostkirche wurden die Bilder immer sehr, sehr ernst genommen, die Ikonenentwicklung zeigt das. Im Westen hatten Bilder lange den Ruf, eher etwas für die zu sein, die nicht lesen können. Schon Gregor der Große hat geschrieben: An den Wänden wird gezeigt, was die, die lesen können, in den Büchern finden. Wir haben uns daran gewöhnt: Bilder sind was für die Anfänger. Kinderbücher haben viele Bilder, Jugendbücher schon weniger, aber Erwachsenenbücher natürlich nicht mehr, da ist der Text der Kern. Dieses Denken hat dazu geführt, dass im Westen die Bilder nie die gleiche theologische Bedeutung gehabt haben wie im Osten. Aber durch diese Geringschätzung konnte sich die Kunst in einer Weise entwickeln, wie das im Osten nicht möglich war.“

[…]

Zurzeit und zukünftig werden viele Kirchen geschlossen, oft sind es die neueren, und so verschwindet ausgerechnet die moderne Kunst aus der Öffentlichkeit. Wie bewerten Sie das?

Thomas Sternberg: „Das ist ein ganz, ganz großes Problem! Wir müssen einerseits möglichst viel erhalten, aber wir müssen natürlich die Qualitäten voneinander unterscheiden. In den 1950er-­Jahren sind, um etwas ganz anderes zu nennen, große Mengen an Messgewändern angeschafft worden, viele davon banalste Serienprodukte aus schlechtem Material, die muss man nicht aufbewahren. Aber es gibt auch großartige, handwerklich und künstlerisch hochwertige Arbeiten aus dieser Zeit. Wer ist in der Lage, zu beurteilen, was gut ist und was nicht? Wer achtet darauf, was da möglicherweise kaputtgeht?

Ich kann Ihnen ein erschreckendes Beispiel aus dem Erzbistum Köln nennen. Im Collegium Marianum in Neuss, ein Haus, in dem ich selbst ein paar Jahre gewohnt habe, hat der Künstler Heinz Mack in den 1980er-­Jahren eine Kapelle als Gesamtkunstwerk geschaffen. Diese Kapelle hat das Erzbistum mit ihren Fenstern, Skulpturen, Ausstattungsstücken einfach so verkauft, ohne sich für die großartige Kunst darin zu kümmern. Eine Gruppe von Laien hat das später getan, sodass die Kapelle heute wieder öffentlich zugänglich ist und dort auch Gottesdienst gefeiert wird.

Es hat mich erschreckt, dass man bereit war, wichtige moderne Kunstwerke ihrem Schicksal zu überlassen. So habe ich die Sorge, dass wir bei Kirchenentwidmungen nicht genügend darauf achten, was sich darin findet. Im Erzbistum Paderborn gibt es allerdings eine gute Inventarisation, die ist sehr wichtig! Und es gibt eine Kunstkommission, die da­rauf achtet. Wichtig wäre allerdings auch, dass sich die Theologinnen und Theologen schon in ihrer Ausbildung mit künstlerischen Fragen beschäftigen.“

[…]

Das gesamte Interview finden Sie in der aktuellen Ausgabe des Dom. Hier können Sie kostenlos ein Probeabo unseres e-Papers bestellen. Schauen Sie mal rein, es lohnt sich bestimmt.

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