25.03.2021

„Wie konnte es dazu kommen?“

„Insbesondere für die älteren Akten gilt, dass ohne äußeren Anlass, sei es durch weltliche Strafverfahren oder eine beharrliche Intervention von anderer Seite, das Bild lückenhaft ist“, schreibt Nicole Priesching. Foto: Uwe Baumann/ Pixabay 

Erbzistum. Mit Spannung ist die Veröffentlichung des Kölner Gutachtens erwartet worden. Für das Erzbistum Paderborn befasst sich die Kirchenhistorikerin Nicole Priesching (kl. Foto) gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin Dr. des. Christine Hartig mit dem Thema (Der Dom berichtete mehrfach). Wir haben bei ihr aus aktuellem Anlass noch einmal nachgefragt. Professorin Priesching beantwortete unsere Fragen per E-Mail.  

Sie machen eine historische Untersuchung, was bedeutet genau „historisch“? 

Das Projekt soll vertiefende Erkenntnisse liefern zum Umfang des Missbrauches, zu den Umgangsweisen der Verantwortlichen, über die Gewalterfahrungen der Betroffenen und die daraus resultierenden Folgen für ihren weiteren Lebensweg. Es gilt zu fragen, welche Personenkreise innerhalb der Kirche von Missbrauchsfällen wussten, wie Entscheidungen über das Ergreifen oder Unterlassen weiterer Maßnahmen getroffen wurden und ob strukturelle Bedingungen existierten, die Missbrauchshandlungen fördern konnten. Deshalb untersuchen wir nicht nur das im juristischen Sinne verantwortliche Leitungspersonal des Erzbistums. Bereits jetzt ist klar erkennbar, dass da rüber hinaus auch ein erweiterter Personenkreis auf allen Ebenen des katholischen Gemeindelebens ebenso wie juristische, medizinische und pädagogische Wissensbestände die Umgangsweise mit Beschuldigten beeinflussten.

Ist eine rein historische Betrachtung nicht zu eindimensional? 

Keineswegs. Historische Forschung fragt immer auch: Wie konnte es dazu kommen? Sexueller Missbrauch durch Kleriker ist ja gerade kein Phänomen, das sich allein durch juristisches Fehlverhalten Einzelner oder scheinbar universelle klerikale Strukturen innerhalb der katholischen Kirche erklären lässt. Uns geht es nicht um eine juristische, theologische oder psychologische Bewertung. Vielmehr untersuchen wir, welche Akteure aus welchen Institutionen und gesellschaftlichen Bereichen wie handelten. Die Stärke der Geschichtswissenschaft ist es also, die Komplexität jener Faktoren herauszuarbeiten und in ihrer jeweiligen Zeitgebundenheit zu erklären, die sexuellen Missbrauch förderten und Aufklärung verhinderten. 

Was wird mit Ihrem Gutachten passieren?

Wir fertigen kein Gutachten an, das einen Sachverhalt wie beispielsweise die persönliche Verantwortung des Leitungspersonals oder die Schwere der Folgen des Missbrauches für die Betroffenen im Einzelfall bewerten soll. Am Ende unseres Projektes wird eine wissenschaftliche Monografie stehen, die Erklärungen anbieten möchte, warum sexuelle Gewalt von Klerikern über Jahrzehnte stattfinden konnte. Das Ausmaß der sexuellen Gewalt, ihre Bedingungen und Folgen sind hierbei Themenfelder, die vergleichend für den gesamten Untersuchungszeitraum dargestellt werden. Die Ergebnisse des Projektes sind Teil eines umfassenderen Aufarbeitungsprozesses. „Erklären“ heißt in diesem Kontext also keineswegs eine Form der Relativierung, sondern ermöglicht eine Reflexion über Missstände und kann somit Konsequenzen für den Umgang mit Beschuldigten und Betroffenen vorbereiten. Unser Projekt ist aber nicht „die“ Aufarbeitung. Eine solche Aufarbeitung kann nur durch das Erzbistum selbst mit den Betroffenen geleistet werden.

Prof. Gehrke hat von einer „katastrophalen Aktenlage“ gesprochen, die er vorgefunden habe. Welche Aktenlage haben Sie vorgefunden?

Ob Prof. Gehrke die Aktenlage wörtlich als „katastrophal“ bezeichnet hat, kann ich jetzt nicht beurteilen. Seine inhaltliche Darstellung deckt sich ja im Großen und Ganzen mit den bereits bekannten Befunden anderer Gutachten, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Die Akten zu beschuldigten Klerikern wurden an unterschiedlichen Stellen geführt. Es existierten keine einheitlichen Standards. Insgesamt betrachtet sind weder Beschuldigungen noch die Umgangsweisen des Leitungspersonals in ausreichender Weise dokumentiert, und in einigen Akten ist davon auszugehen, dass Dokumente fehlen. Bei uns ist die Sichtung der Personal akten noch nicht abgeschlossen, weshalb wir hierzu noch keine abschließende Bewertung vornehmen können. Es deutet sich aber an, dass die Lage im Paderborner Erzbistum ähnlich ist. Insbesondere für die älteren Akten gilt, dass ohne äußeren Anlass, sei es durch weltliche Strafverfahren oder eine beharrliche Intervention von anderer Seite, das Bild lückenhaft ist. So fehlen immer wieder Angaben über die sexuelle Gewalt von Klerikern und darauf gegebenenfalls folgende Maßnahmen. Auch vor diesem Hintergrund sind Meldungen von Betroffenen über sexuellen Missbrauch von Klerikern ein wichtiger Baustein, um unser Wissen über das Ausmaß und die Reaktionen des Erzbistums zu erweitern. Zugleich gilt es hervorzuheben, dass das Erzbistum seine Zusage, uns uneingeschränkte Akteneinsicht zu gewähren, umsetzt und uns bei der Akteneinsicht auch während des Lockdowns unterstützt hat.

Was halten Sie von dem Beschluss des Diözesankomitees, das eine inhaltliche und zeitliche Ausweitung der Untersuchung fordert? 

Zunächst einmal ist es bedauerlich, dass wir von der Kritik aus den öffentlichen Medien erfahren haben. Eine persönliche Kontaktaufnahme im Vorfeld war nicht erfolgt, sodass es von unserer Seite keine Gelegenheit gab, zu den Kritikpunkten Stellung zu beziehen und diese ggf. schon im Vorfeld auszuräumen. Sodann muss zwischen Forschung und Aufarbeitung differenziert werden. Die eingeforderte „Erfassung von Tatsachen, Ursachen und Folgen von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ sowie die „Identifikation von Strukturen, die sexuellen Missbrauch ermöglicht oder erleichtert oder dessen Aufdeckung erschwert haben“, untersuchen wir ebenso wie den „administrativen Umgang mit Tätern und Täterinnen und Betroffenen.“ Dies kann auch der Darstellung des Projektes auf der Homepage meines Lehrstuhles entnommen werden. Insofern erfüllt der Forschungsauftrag die Festlegung der Deutschen Bischofskonferenz durchaus, auch wenn im Sinne eines größeren Aufarbeitungsprozesses noch weitere Elemente dazukommen müssen, wenn es zum Beispiel um die Anerkennung des Leides der Betroffenen und ihre Begleitung geht. Hier überzeugt mich der Beschluss des Diözesankomitees also inhaltlich nicht.  

Was schließlich die Begrenzung des Untersuchungszeitraumes auf die Jahre 1941 bis 2002 angeht, so ist diese durch das Erzbistum Paderborn als Auftraggeber der Studie vorgenommen worden. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre die Erweiterung des Untersuchungszeitraumes zu begrüßen.

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