18.02.2021

In weiten Raum gestellt

Die chilenische Künstlerin Lilian Moreno Sánchez hat das neue Hungertuch geschaffen. Heute lebt und arbeitet sie in Augsburg. Fotos: Härtl/MISEREOR

Was ist das, was man da sieht? Linien, die sich von links herein kringeln, in der Mitte zusammenknäueln und nach rechts geradlinig auslaufen. Dazwischen goldene Blumen und dann wieder Flecken, als sei das Bild in den Schmutz gefallen. Erst wenn man weiß, was man sieht, erkennt man es und dann tut es fast weh. Man sieht das nachgezeichnete Röntgenbild eines mehrfach gebrochenen Fußes: in der Mitte Ferse und Gelenk, links Mittelfuß und Zehen. Es ist der Fuß eines Menschen, der in Chile im Oktober 2019 bei Demonstrationen gegen die soziale Ungerechtigkeit im Lande verletzt worden ist.  

Fuß eines Menschen

Vielleicht erinnert sich noch jemand an die Bilder, die man damals in den Nachrichten sehen konnte. Hunderttausende demonstrierten wochenlang für eine gerechtere Verteilung der Güter des Landes. Angefangen hatte es mit Protesten der Studierenden gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Daraus wurde eine Protestbewegung, die weite Teile der Bevölkerung erfasste. Die Staatsgewalt machte ihrem Namen alle Ehre und reagierte – mit Gewalt. Tausende wurden verletzt. Trotzig benannten die Demonstranten den „Plaza Italia“ im Zentrum der Hauptstadt in „Plaza de la Dignidad“, Platz der Würde, um. 

Chile ist die Heimat der Künstlerin Lilian Moreno Sánchez, die das Hungertuch in diesem Jahr gestaltet hat. Heute lebt sie in Augsburg. Die Proteste in ihrer Heimat finden sich auch noch auf andere Weise im Bild. Was aussieht wie Flecken sind auch Flecken. Kurz vor der Pandemie reiste Sánchez mit dem Untergrund, Bettlaken eines Krankenhauses und eines Klosters, nach Chile und sammelte auf eben jenem Platz der Würde Staub und Dreck, indem sie das Tuch auf dem Boden und an Mauern rieb. Eingewoben in die Kohlezeichnungen sind zudem Goldfäden, als Zeichen der Narben, die eine Wunde hinterlässt. Goldene Blumen stehen für die Schönheit, für die unbesiegbare Kraft des Lebens. 

Gott gibt Freiheit

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ hat MISEREOR über dieses Hungertuch geschrieben, ein Vers aus Psalm 31. Darin beklagt der Beter einerseits seine gegenwärtige Situation, andererseits hofft er auf Gott, der doch schon einmal gerettet hat. Vers 9 lautet: „Du hast mich nicht preisgegeben der Hand meines Feindes, du stelltest meine Füße in weiten Raum.“ Gott also gibt Freiheit, er stellt den Menschen hin, aufrecht hin, er lässt ihn gehen. Wer sich selbst mal ein Bein oder einen Fuß gebrochen hat, erinnert sich vielleicht noch daran, wie sich das anfühlt, wenn man wieder laufen kann, wenn man wieder Mut hat, sich auf beide Füße zu stellen und die Gehhilfen weglassen kann. 

Zum ersten Mal, seit MISEREOR 1976 die Tradition der Hungertücher aufgegriffen und zugleich neu gestaltet hat, beteiligt sich das evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ daran. Eine Erweiterung des Raumes gewissermaßen, in den Gott uns stellt. 

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