13.03.2020

„Opfer im Spiel der Großmächte“

Vor dem MISEREOR-Hungertuch im Dom: Anne Ziegler (M.) mit Ulrich Klauke vom Referat Weltmission-Entwicklung-Frieden und Dolmetscherin Stefanie Götzmann. Foto: Wiedenhaus

Paderborn. „Gib Frieden!“ ist die aktuelle MISEREOR-Fastenaktion überschrieben. Sie nimmt den Krieg in Syrien und die Auswirkungen auf das Nachbarland Libanon in den Blick. Dort arbeitet Anne Ziegler vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten. Als MISEREOR-Projektpartnerin ist sie derzeit im Erzbistum zu Gast. Der Dom sprach mit ihr über die Aspekte, die in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion auf politischer Ebene zu kurz kommen: Dort geht es um die anonyme Masse, die Helfer in Syrien und im Libanon haben den Einzelnen und sein Schicksal im Blick.

Frau Ziegler, aktuell fliehen wieder Menschen aus Syrien. Zum Thema wird das aber erst, wenn sie sich Richtung EU bewegen. Was lösen solche Meldungen bei Ihnen aus?

Ich kann verstehen, dass die EU nicht überall helfen kann! Hinzu kommt, dass es diese Flüchtlingsströme seit rund neun Jahren, seit dem Beginn der Syrien-Krise, gibt. Die Menschen flohen auch innerhalb des Landes oder in die Nachbarländer wie zum Beispiel den Libanon. Man hat sich so an das alles gewöhnt, dass selbst die Menschen im Nahen Osten dem kaum noch Aufmerksamkeit schenken! Das gehört für sie zum Alltag. Und genau da sehe ich eine große Gefahr: Durch das allgemeine Desinteresse wird die aktuell größte humanitäre Krise weltweit schlicht und einfach nicht beachtet oder gar vergessen.

Wie steuert Ihre Organisation gegen?

Wir legen unser Augenmerk auf das Schicksal der Einzelpersonen, und gerade deshalb ist es unerträglich, dass diese Menschen als politisches Druckmittel verwendet werden. Erdogan droht, die Grenzen zu öffnen und die Menschen ausreisen zu lassen. Das ist auf der einen Seite ganz furchtbar, aber auf der Seite denke ich auch, dass erst dann die Welt dieser Krise wieder die nötige Aufmerksamkeit schenkt. Eine wirkliche Lösung kann es nämlich nur auf internationaler Ebene geben!

Von dieser politischen Lösung wird aber schon seit Jahren gesprochen, haben Sie da noch Hoffnung?

Ich hoffe es, weil es keine Alternative dazu gibt! Militärisches Einschreiten macht die Situation immer schlimmer für die Menschen und unberechenbarer– und zwar nicht nur für die Region, sondern auch für die EU! Wenn wir heute hier sind, geht es auch darum, den Frieden durch so eine politische Lösung einzufordern!

Wie kann die aussehen, was müsste sie enthalten?

Ich bin da nicht die richtige Ansprechpartnerin! Wir arbeiten und leben mit denjenigen, die unter dem Krieg leiden. Aber die Politik muss diese Realität anerkennen, und etwas tun, was diesen Menschen dauerhaft hilft!

Sie haben es gerade schon gesagt, es geht Ihrer Organisation um die einzelnen Menschen und ihre Schicksale. Wie erleben Sie diese Menschen, woher schöpfen die Opfer des Krieges Hoffnung?

Hoffnung schenken die kleinen Erfolge im Alltag, etwa wenn jemand Zugang zu Bildung bekommt und eine Schule besuchen kann. Bevor ich meine Stelle in Beirut angetreten habe, habe ich von 2010 bis 2018 in Syrien gelebt. Zu Beginn des Krieges waren nur wenige Hilfsorganisationen vor Ort. Die Syrer mussten also die Dinge selbst in die Hand nehmen. Das haben sie getan: Sie haben sich gegenseitig geholfen und zusammengehalten! Schiitische und sunnitische Muslime, Christen, Alawiten und Drusen sind zum Flüchtlingsdienst der Jesuiten (JRS) gestoßen und haben zusammengearbeitet, um den Vertriebenen zu helfen. So wurden Verbindungen geschaffen, der andere war nicht mehr der Feind. Er wurde zu einem Verbündeten. Das hat ihnen und uns Hoffnung gegeben.

Hat das über die Jahre gehalten?

Das setzt sich bis heute fort, das Personal des JRS setzt sich zusammen aus allen Gruppen der syrischen Bevölkerung. Alle arbeiten gemeinsam zum Wohle von Kindern und Familien. Die Frauen haben besonders unter der Situation zu leiden: Sie müssen sich um die Kinder kümmern und häufig die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen, weil die Männer im Krieg sind, vermisst werden oder tot sind. Alle Mütter träumen von einer besseren Zukunft für ihre Kinder, in der sie zur Schule gehen können. Die Frauen selbst, denen das zum Teil nicht vergönnt war, lernen beim JRS Lesen und Schreiben, damit sie ihren Kindern helfen können. Diese Familien sind Opfer, aber nicht nur Opfer einer feindlichen Gemeinschaft innerhalb des Landes, sondern auch im Spiel der Großmächte! Die von mir geschilderten Fortschritte im Alltag sind das, was ich als kleine Hoffnungsfunken in der Dunkelheit bezeichnen möchte.

Das ganze Interview gibt es im Dom Nr. 12 – jetzt im unverbindlichen Probeabo 4 Ausgaben des Doms im neuen Layout lesen! 

 

Zur Person

Anne Ziegler wurde 1964 in Paris geboren. Nach dem Abitur studierte sie Physik und arbeitete anschließend in Forschungszentren in Grenoble in Frankreich. 2010 kam Anne Ziegler als Koordinatorin zum Flüchtlingsdienst der Jesuiten nach Aleppo und war von 2012 bis 2014 stellvertretende Regionaldirektorin in Syrien. Von 2014 bis 2017 arbeitete sie dort als Beraterin, Coach und Ausbilderin. Seit Oktober 2017 ist Frau Ziegler stellvertretende Regionaldirektorin des Flüchtlingsdienstes der Jesuiten im Nahen Osten und Nordafrika und leitet das Regionalbüro in Beirut.

www.jesuiten-fluechtlingsdienst.de

 

 

 

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