25.07.2019

Überlebenskampf in den Slums

Ella Nölting aus Büren möchte den Kindern in Kalkutta eine Perspektive geben. Foto: Kalischek

Kalkutta. Vom Schrecken der Nacht bleiben ein paar Fackeln aus Müll. Diese hatten Slum-Bewohner in ihrer Panik zusammengewickelt, um sich vor den anrückenden Kidnappern zu schützen. Sechs Kinder sind seit dieser Nacht verschwunden, entführt von unbekannten Männern – so die eindeutige Aussage im Viertel.

von Ingo Kalischek

Handel mit Kindern ist in Kalkuttas Straßen eine alltägliche Bedrohung. Eine Bürenerin erlebt das hautnah: Ella Nölting reist seit 13 Jahren in die indische Metropole. Sie versucht, Kindern eine Perspektive zu zeigen.

Im Jahr 2016 wurden nach Regierungsangaben 3 500 Mädchen und Jungen in Westbengalen, Hauptstadt Kalkutta, verschleppt. In Wirklichkeit sind es deutlich mehr, da viele Menschen hier nicht registriert sind. Laut verschiedener Hilfsorganisationen trifft es überwiegend Mädchen und junge Frauen, die zu 80 Prozent für sexuelle Ausbeute verkauft werden. In Kalkutta befindet sich das größte Bordell Asiens, Sonagachi, mit geschätzt 11 000 Sexarbeitern.

Kinder werden aber auch unter falschen Versprechungen zu Menschenhändlern gelockt. Im Schutz der Dunkelheit greifen sich die fremden Männer vor allem die Kinder, die sie wie billige Waren verkaufen können – als Prostituierte oder Bettler.

Kinder wie Nashia. Das Mädchen lebt mit seiner Mutter, Oma und ihren vier Schwestern unter einer kilometerlangen Autobrücke. Sie teilt sich den Ort mit Hunderten von Menschen. Ihr ungeschützter Unterschlupf ist keine vier Meter von einer stark befahrenen Straße entfernt. Er besteht aus Bambusstangen und modrigen Tüchern, nicht größer als ein Doppelbett. Mehrfach pro Stunde rauscht eine Straßenbahn vorbei. Dann wackelt der staubtrockene Boden.

Nashia ist erst drei Jahre alt und finanziert ihre Familie. Sie bettelt. Ihr wächst die Oberlippe praktisch aus der Nase, zwei ihrer Zähne ragen weit hervor. Das bereitet ihr sichtliche Schmerzen. Wegen dieser doppelten Lippen-Kiefer-­Gaumenspalte kann Nashia weder sprechen noch richtig essen. Auch das Atmen fällt ihr schwer. Deshalb erbettelt sie täglich gutes Geld.

Vom nächtlichen Überfall im Slum blieb Nashia verschont. Deshalb hält Ella Nölting das kleine zitternde Mädchen am Tag danach in ihren Armen. Die Bürenerin spricht der ängstlichen Nashia aufmunternd zu und begutachtet ihren Mund. Die Fehlbildung wäre in Deutschland schon längst operiert worden. Doch im Slum von Kalkutta haben die Menschen andere Sorgen. Hier versuchen sie irgendwie, den nächsten Tag zu überstehen.

Auch deshalb sitzt Nölting freiwillig hier, mit Nashia im Arm, inmitten von abgemagerten Menschen und räudigen Hunden, in einer gesetzesfreien Zone, und nicht in ihrem gemütlichen Wohnzimmer in Büren-Harth, wo sie mit ihrem Ehemann lebt. Nölting ist 61 Jahre alt, Mutter zweier erwachsener Söhne, eine kleine Frau mit weißem Haar und rotem Lippenstift.

Sie reist seit 2007 nach Kalkutta, 11 000 Kilometer entfernt. Damals arbeitete sie in der Stadt für ein paar Wochen als freiwillige Helferin im Sterbehaus Kalighat von Mutter Teresa. Diese Hilfe war ihr Jugendtraum. Dabei lernte sie den Inder Carlton Rixon kennen. Der gläubige Christ, 51 Jahre alt, engagiert sich seit 20 Jahren ehrenamtlich in den Slums und kümmert sich dort um die bitterarmen Menschen.

Nölting war angetan. In ihrer Heimatstadt Büren sammelt die gelernte Krankenschwester das ganze Jahr über privat Spenden. Das Geld bringt sie jedes Jahr persönlich nach Kalkutta, um sicherzugehen, dass jeder Cent ankommt – dort, wo es die Menschen dringend brauchen.

Sobald Nölting in der schmutzigen 18 Millionen-­Menschen-Metropole angekommen ist, in der Fläche kleiner als Bielefeld, fährt sie mit Carlton Rixon in die Slums. Davon gibt es in Kalkutta schätzungsweise 3 000 – mit bis zu einer Million Bewohnern. Hier stinkt es nach Abgasen und altem Fett. Menschen schlafen in Blechhütten an der Straße oder unter Brücken. Der Bürgersteig ist ihr Badezimmer, der harte Lehmboden ihr Bett. Ella Nölting weiß: Um Kinder wie Nashia langfristig aus diesem Sumpf zu ziehen, reichen Geld und warme Worte nicht aus. Der einzige Ausweg ist Bildung.

Nölting und Rixon bauen seit Jahren nördlich von Kalkutta ein privates Internat in einem Dorf auf, wo Straßenkinder unterrichtet werden – und fortan ihre Jugend verbringen dürfen, in Sicherheit und Würde.

Bis heute konnten Nölting und Rixon so mehr als 200 Kindern eine Perspektive ermöglichen. Bevor die Kinder die Schule besuchen, verhalten sie sich wie wilde Tiere, ohne jedes Bewusstsein für Recht und Unrecht, erzählt Nölting.

Wenn sie die Schule nach Jahren verlassen, sind sie gebildet, gut erzogen – und vor allem aufgrund ihrer Englisch-­Kenntnisse in der Lage, fest zu arbeiten. Ihre Eltern sind Tagelöhner oder Bettler. Sie haben kein Geld, um sie auf eine Schule zu schicken. Der indische Staat trägt die Schulkosten noch längst nicht überall.

Finanziert wird das Leben dieser Kinder zum Großteil von Menschen aus Ostwest­falen-Lippe. Von den Spendengeldern kauft Nölting den Schulkindern Kleidung, Essen, Bücher und Medikamente. Den Bau der Schule treibt sie dadurch immer weiter voran. Sie lässt unter anderem Toiletten bauen, Schlafräume errichten und Gitter an den Fenstern anbringen, um Affen und Ratten fernzuhalten.

Auch Nashia soll die Chance auf ein besseres Leben bekommen. Doch an dieser Stelle gerät Nöltings Hilfsprojekt ins Stocken, denn Nashias Familie steht dem im Wege. Ihre alkoholkranke Oma setzt bewusst auf das Aussehen ihrer Enkelin. Denn je verkrüppelter und entstellter ein Bettler ist, desto mehr Mitleid haben die Passanten. Und je mehr Geld sie geben, desto weniger Hunger leidet die Familie. So einfach ist das.

Und ihre Oma weiß: Sobald ihre Enkeltochter operiert und zum Internat geschickt wird, fällt der Familie eine wichtige Einnahmequelle weg. Deshalb unternimmt sie keine Anstrengungen, Nölting zu unterstützen. Verabredungen hielt sie mehrfach nicht ein; Medikamente für ihre Enkeltochter legte sie weg – Na­shia hat keine Chance, dem Elend zu entkommen. Wenn sie älter ist, wird sie verstehen, dass ihre Mama sie ablehnt, ihr Vater weg ist, ihre Oma trinkt, sich die Männer im Slum nachts um Heroin und Frauen schlagen und dass regelmäßig böse Menschen kommen, um Kinder wie sie zu verkaufen.

Nölting weiß das und gibt trotz aller Rückschläge nicht auf. Zunächst, sagt die Bürenerin, müsse Nashia unbedingt operiert werden. Und dann solle sie das Internat besuchen – und eine Perspektive bekommen. Da ihr Mund- und Rachenraum nicht richtig getrennt sind, besteht bei dem Mädchen ein hohes Infektionsrisiko. Das kann tödlich enden.

Als Nölting einen erneuten Anlauf wagt und mit Nashia in ein Krankenhaus fährt, erklärt ihr der Arzt, dass ein Eingriff wegen niedriger Hämoglobinwerte im Blut erst in einigen Monaten möglich ist. Dafür müsse Nashia zunächst täglich Medikamente einnehmen.

Einen Tag später kommt Nölting unter die Brücke, um Nashia für eine Vorsorgeuntersuchung abzuholen. Doch von dem Mädchen und ihrer Oma ist trotz Verabredung keine Spur zu sehen. Stattdessen zeigt sich der sonst so hartnäckigen Nölting ein Bild, das ihren Blick erstarren lässt: Männer bewaffnen sich nach dem nächtlichen Überfall im Slum mit Bambus-Knüppeln; Mütter binden ihre Kinder mit Seilen fest, um sicherzugehen, dass sie beim Spielen nicht unvorsichtig in die Fänge der Kidnapper laufen.

Carlton Rixon und Ella Nölting finden Nashia wenig später vor einem Wahrzeichen Kalkuttas, dem Victoria Memorial, wo das kleine Mädchen mit ihrer älteren Schwester alleine bettelt. Ein paar Münzen liegen vor ihr auf der Straße.

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