28.02.2019

Der Balken in meinem Auge

Foto: Nordreisender/photocase

Im Bewusstsein eigener Verletzungen kann man an der Heilung anderer mitwirken.

von Reinhard Bürger

Es sind wunderbare Bilder, die der Evangelist Lukas in seiner „Feldrede“ gebraucht, um die Kommunikation Jesu mit seiner Zuhörerschaft darzustellen. Es sind Bilder, die kaum einer Erklärung bedürfen und für die meisten sofort verständlich sind. Ich wünschte mir, so mitreißend und verständlich predigen zu können.

Aus den vielen Vergleichen der „Feldrede“ trifft mich besonders das Wort vom Splitter im Auge meines Nächsten und dem Balken in meinem eigenen Auge. Ich erlebe im beruflichen Alltag, aber auch in privaten Zusammenhängen immer wieder, dass andere mit einem Splitter im Auge he­rumlaufen: Das kann für ein unverbindliches Verhalten stehen, für ständige Versäumnisse, für Vertuschen oder für überzogene Eitelkeit. Ich ärgere mich schnell, wenn ich das schräge Verhalten der anderen oder ihre Defizite wahrnehme. Der Evangelist will aber gar nicht von dieser kritischen Sichtweise auf den anderen ablenken, sondern erweitert die Perspektive, weil er mich in einen Heilungsprozess mit einbezieht. Denn das Herausziehen eines Splitters aus dem Auge ist keine Schikane oder lieblose Kritik am anderen, sondern es soll letztlich Heilung ermöglichen. Der Durchblick soll wieder gelingen.

Das kann aber nur geschehen, wenn alle Beteiligten sich ihrer Schwäche und ihrer Verletzungen bewusst sind. Die Verletzten auf der einen Seite und die Heilen und Guten auf der anderen Seite – diese Alternative geht nicht auf. Ich muss mir zunächst meiner eigenen Verletzungen bewusst werden, wenn ich einem anderen Menschen Wege zu einer Heilung ermöglichen will. Ich muss sensibel dafür werden, dass ich vielleicht auch beeinträchtigt bin durch das massive Holz in meinem Auge. Kommt daher das Wort vom „Holzkopf“ oder vom „Brett vor dem Kopf“? Auf jeden Fall kann es Heilung nur geben, wenn ich selbst bereit bin, mich heilen zu lassen. Ich muss vom hohen Ross der Überlegenheit heruntersteigen.

Im Zusammenhang mit den Verbrechen der Nazi-Diktatur hat es zu viele gegeben, die nichts gesehen haben wollen, deren Wahrnehmung getrübt war oder deren Blick einseitig war. Wir haben es über Jahrzehnte erlebt, wie schwierig es war, Verbrechen aufzudecken oder Verstrickungen zu benennen. Ich habe selbst erst vor vier Jahren erfahren, dass mein Großvater (gestorben 1952) Mitglied der Nazi-Partei war. Das war nie ein Thema. Oder all die Verheimlichung und Vertuschung im Zusammenhang mit der Missbrauchsgeschichte der letzten Jahrzehnte auch in der Kirche. Diesen Balken aus dem Auge der Kirche herauszuziehen, bereitet unendlich viel Mühe, kostet viel Überwindung und erfordert ein neues Denken und ein neues Miteinander in der Kirche.

Wir singen gern „Herr, erwecke deine Kirche und fange bei mir an …“ Das ist genau der springende Punkt: Für die anderen weiß ich oft, was für sie gut ist. Ich möchte es aber für mich selbst lernen und das Evangelium hören oder lesen als eine Botschaft, die mir zuerst gilt. Ich möchte die blinden Flecken in mir selbst entdecken, die Einseitigkeiten, die verzerrten Wahrnehmungen, die schrägen Urteile. Und vielleicht brauche ich den Balken in meinem Auge auch gar nicht selbst entfernen, sondern finde Menschen, die mir dabei helfen, im vertrauten und offenen Gespräch, in Beratung und Supervision, im Sakrament der Versöhnung. Ich sehe weiter und klarer, wenn ich den Mut finde, den Balken in meinem Auge anzupacken.

Zum Autor:

Pfarrer Reinhard Bürger ist Leiter der Pastoralverbünde „Derne-­Kirchderne-Scharnhorst“ und „Kirchspiel Husen-Kurl-­Lanstrop“ Dortmund.

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