29.10.2018

Die Schar der Heiligen wächst schnell

Foto: KNA

Im Mittelpunkt des kirchlichen Hochfestes Allerheiligen am 1. November stehen die Heiligen – also laut katholischer Tradition sowohl jene Menschen, die von der Kirche für heilig erklärt worden sind, als auch jene, „um deren Heiligkeit nur Gott weiß“. 6 650 Heilige und Selige sowie 7 400 weitere bei Christenverfolgungen getötete Märtyrer listete das vatikanische Heiligengesamtverzeichnis „Martyrologium Romanum“ 2004 auf. Diese Zahl ist keineswegs stehen geblieben – denn auch nach der Ära von Johannes Paul II. (­1978–­2005), der 2014 selbst zur „Ehre der Altäre“ erhoben wurde, sprachen seine beiden Nachfolger Benedikt XVI. und Franziskus Hunderte Märtyrer und Vorbilder selig oder heilig.

Die in Mitteleuropa wohl populärste von Benedikt XVI. deklarierte Heilige ist die Mystikerin Hildegard von Bingen (1089–1179). Sie war zuvor zwar längst im deutschen Sprachraum als Heilige verehrt worden, ohne jedoch jemals formell heiliggesprochen worden zu sein. Benedikt XVI. holte dies 2012 nach, nahm sie in den Heiligenkalender der Weltkirche auf und erklärte sie zugleich zur Kirchenlehrerin.

Als eine der bekanntesten Heiligen der Neuzeit wurde 2016 Mutter Teresa von Kalkutta (1910–1997) zur „Ehre der Altäre“ erhoben. Die Heiligsprechung der Ordensgründerin und Friedensnobelpreisträgerin, so Franziskus, sei Ansporn an Kirche und Gesellschaft, den Blick auf die „Ränder des Lebens“ zu schärfen. Franziskus hält eine Art „Heiligsprechungsrekord“ – den er allerdings gleichsam von seinem Vorgänger erbte: Er kanonisierte im Mai 2013, gleich zu Beginn seines Pontifikates, den Italiener Antonio Primaldo und seine 800 Gefährten, die 1480 in der apulischen Hafenstadt Otranto bei einem Überfall osmanischer Soldaten ermordet worden waren. Noch nie in der Kirchengeschichte wurde eine so große Zahl an neuen Heiligen proklamiert.

Der Pole Johannes Paul II. führte die Praxis der Heiligsprechungen mit 482 in eine neue Zeit. Seine Vorgänger in den vergangenen vier Jahrhunderten hatten alle zusammen nur etwa halb so viele Kanonisationen vorgenommen. Zu den bekanntesten Heiligsprechungen seiner langen Amtszeit gehören Pater Pio von Pietrelcina, die deutsche Philosophin, Ordensfrau und NS-Märtyrin Edith Stein, der Opus-Dei-Gründer Josemaría Escrivá, die polnischen Ordensleute Maria Faustyna Kowalska und Maximilian Kolbe sowie die Missionare Arnold Janssen und Josef Freinademetz.

Seit 2005 nach dem Tod Johannes Pauls II. der „Santo subito!“-Ruf der Menge über den Petersplatz scholl (Heilig sofort!), ist eine gewisse Abkehr von jenem Verfahren zu beobachten, das der Vatikan einst zum Zweck der Entschleunigung und Objektivierung entwickelt hat und in diesen Grundzügen nunmehr seit rund 300 Jahren anwendet.

Johannes Paul II. selbst rückte im Fall von Mutter Teresa erstmals von der im kirchenrechtlichen Verfahren vorgeschriebenen Fünf-Jahres-Frist für einen Prozessbeginn ab und erlaubte eine Aufnahme des Verfahrens bereits zwei Jahre nach ihrem Tod. Der Seligsprechungsprozess für ihn selbst begann mit Erlaubnis Benedikts XVI. sogar schon drei Monate nach seinem Tod im April 2005.Johannes Paul II. wurde dann noch zweieinhalb Jahre früher heilig als Mutter Teresa, die acht Jahre Vorsprung hatte und ja selbst bereits auf die Überholspur gesetzt war. Immer schneller scheint sich das Rad der Ausnahmen seitdem zu drehen. Nur drei Monate nach der brutalen Ermordung des französischen Priesters ­Jacques Hamel durch Islamisten im Sommer 2016 ließ Franziskus zuletzt den Prozess auf Diözesanebene beginnen – wohl um ein populäres Vorbild im Angesicht der islamistischen Bedrohung bieten zu können und den Terroristen christliche Nächstenliebe entgegenzuhalten. Kirchenpolitisch verständlich – aber kirchenrechtlich bedenklich. Johannes Paul II., der Papst aus dem kommunistischen Polen, hatte den Wunsch, den Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts Vorbilder zu geben. Die Maschinerie der massenhaft angelaufenen Prozesse taktete auch unter Benedikt XVI. weiter – und nun unter Franziskus.

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