29.06.2017

Flucht ohne Ende?

Menschen fliehen vor der Hunger­katastrophe in Somalia. ­Afrika ist am stärksten vom Klima­wandel betroffen. 
Das ist ein Grund für steigende Flüchtlingszahlen. Foto: dpa

Paderborn. Die Zahl der Asylbewerber in der Europäischen Union ist seit 2011 ständig gestiegen. 2015 wurde mit knapp 850 000 Flüchtlingen in der EU ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Doch das könnte nur ein Vorgeschmack auf das sein, was Europa künftig zu erwarten hat, meint das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

von Matthias Nückel

Die Flüchtlinge, die Westeuropa derzeit erreichen, kommen vor allem aus den sogenannten MENA-Staaten, die den Nahen Osten und Nordafrika umfassen. Der größte Teil von ihnen ist aus dem Bürgerkriegsland Syrien geflohen. „MENA ist nur der Vorgeschmack auf das, was uns noch blüht“, prognostizierte Ruth Müller, Ressortleiterin Internationale Demografie beim Berlin-Institut, in einem Vortrag bei der Mitgliederversammlung der Bank für Kirche und Caritas eG in Paderborn.

Eigentlich waren die Voraussetzungen in den MENA-Staaten für eine gute Entwicklung nicht schlecht. In Sachen Bildung hat sich viel getan. Unter den 20- bis 29-Jährigen verfügt heute mehr als die Hälfte aller MENA-Bewohner über eine höhere Sekundarschulbildung und beinahe ein Viertel hat sich danach weiterqualifiziert, zum Beispiel eine Hochschule besucht. 1990 noch hatten zwei Drittel aller erwachsenen Frauen und etwa die Hälfte aller Männer nicht einmal die Grundschule abgeschlossen. Eine Analyse des Berlin-­Institutes zeigt jedoch, dass die demografischen Entwicklungen in den MENA-Ländern, gepaart mit einem zunehmenden Bildungsstand der Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten, wenig zur wirtschaftlichen Entwicklung, dafür aber mehr zu einer Schwächung der politischen Stabilität beigetragen haben. „Viele der jungen Menschen können zwar formal eine gute Schulbildung oder gar Hochschulbildung vorweisen, doch auf dem Arbeitsmarkt werden ihre Fähigkeiten kaum benötigt“, so das Institut.

„Formal müsste diese Situation dazu führen, dass es der Wirtschaft gut geht“, sagte Ruth Müller. Doch das sei in den MENA-Ländern bisher kaum gelungen. Versäumnisse sieht die Wissenschaftlerin in drei Bereichen. Zum einen mangelt es an einem innovativen Unternehmertum. Arbeitsplätze, die der jungen Erwachsenengeneration entsprechen und ihnen ein ausreichendes Einkommen bieten, können nur durch einen lebendigen Privatsektor und engagierte Unternehmer entstehen. In der MENA-Region werden jedoch im weltweiten Vergleich nur wenige Unternehmen gegründet. Eine mangelnde In­frastruktur – zum Beispiel häufige Stromausfälle –, Korruption und ein schwerer Zugang zum Kapital sind Hürden für die Unternehmensgründung.

Der zweite Grund für die schlechte wirtschaftliche Lage der MENA-Länder liegt laut Müller in der Bildung. Denn trotz eines formal hohen Bildungsgrades verfügen junge Menschen oft nicht annähernd über die Fähigkeiten, um mit Fachkräften in modernen Ländern zu konkurrieren. „Weil jährlich Tausende Jugendliche eine Ausbildung abschließen, aber dennoch weder über einen ausreichenden englischen Wortschatz verfügen noch über die Kompetenz, komplexe Probleme zu lösen und konstruktiv in einem Team zu arbeiten, mangelt es den Arbeitgebern an Fachkräften. Gleichzeitig steht eine ganze Schar formal gut qualifizierter junger Menschen auf der Straße“, beschreibt das Berlin-Institut die paradoxe ­Situation.

Ausbildungsberufe genießen zudem einen geringen Stellenwert. Und diejenigen, die ein Studium absolvierten, haben zudem die falschen Fächer studiert. Es gebe zu viele Sozial­wissenschaftler und zu wenig Ingenieure und Naturwissenschaftler, zeigte Müller auf.

Als drittes Versäumnis bei der Wirtschaftsförderung sieht die Wissenschaftlerin die Geschlechterungleichheit. Das Potenzial von Frauen werde weitgehend nicht genutzt. „Nach dem Studium steigen fast alle Frauen aus dem Arbeitsmarkt aus“, stellte Ruth Müller fest. „Die Erwerbstätigkeit von Frauen würde jedoch die Wirtschaft ankurbeln“, ist sie überzeugt.

Aufgrund dieser Entwicklung wird die Spanne zwischen Erwerbsbevölkerung und Beschäftigten zwischen 15 und 64 Jahren bis 2020 weiter anwachsen. Waren 1991 von etwa 150 Millionen Menschen zwischen 15 und 64 Jahren in den MENA-Ländern 63 Millionen beschäftigt, so werden es nach Prognosen des Berlin-Institutes im Jahr 2020 von etwa 330 Millionen nur 149 Millionen sein. Die Zahl der Arbeitslosen in den MENA-­Staaten steigt folglich von 87 Millionen im Jahr 1991 auf 181 Millionen im Jahr 2020.

Dies führt auch zur politischen Instabilität. Wenn es nicht gelinge, jungen Erwachsenen gute Arbeitsmöglichkeiten und damit einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, dann neigten sie dazu, gegen Missstände aufzubegehren, notfalls auch mit Gewalt, mahnt das Berlin-Institut. Schon heute gehören vier MENA-­Länder zu den zehn instabilsten auf der Welt, berichtete Müller. Und politische Konflikte wiederum sind eine Ursache für die Flucht.

Aus diesen Fehlern der MENA-­Länder müsse man lernen, betonte die Ressortleiterin des Berlin-Institutes. Denn die eigentlich fragilen Länder dieser Welt seien die Subsahara-Staaten. 34 von 47 Ländern in Subsahara-Afrika liegen nach dem Index für menschliche Entwicklung (HDI) der Vereinten Nationen im Bereich der „niedrigen menschlichen Entwicklung“. Der HDI misst das Einkommen, aber auch Aspekte wie Bildung und Gesundheit. Zum Vergleich: Mit Ausnahme Bulgariens haben alle EU-Staaten nach dem Index eine „sehr hohe menschliche Entwicklung“.

Auf der anderen Seite wächst die Bevölkerung in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara rasant. In 26 dieser wenig entwickelten Länder dürfte sich die Bevölkerung bis 2050 verdoppeln. Für Niger sagen die Vereinten Nationen sogar eine Verdreifachung voraus.

Gleichzeitig sind diese Länder am stärksten vom Klimawandel betroffen. Der Kampf um Wasser und die größere Gefahr von Naturkatastrophen könnte nach Ansicht des Berlin-Institutes die Zahl der „Umweltflüchtlinge“ in die Höhe steigen lassen. „Deshalb ist in den kommenden Jahren mit einer wachsenden Zahl von Asylbewerbern zu rechnen“, meinte Ruth Müller.

Um die Völkerwanderungen zu verhindern, müssen nach Ansicht Müllers verschiedene Maßnahmen ergriffen werden. Zunächst muss das Bevölkerungswachstum gebremst werden. Kurzfristig ist dies jedoch nach Auffassung des Berlin-­Institutes nicht möglich, weil es in den betroffenen Ländern überproportional viele junge Menschen gibt, die erst ins Alter der Familiengründung kommen. Deshalb rechnen Demografen erst langfristig damit, dass sich das Bevölkerungswachstum abflacht.

Deshalb müssten vor allem die richtigen Schwerpunkte bei der Bildung gesetzt und Jobs geschaffen werden, betonte Ruth Müller. Dies könnte vor allem im Nahrungsmittel- und im Energiebereich geschehen. Denn die afrikanischen Länder können sich nicht selbst ernähren und sind von Energie-Importen abhängig.

„Von seinen natürlichen Vo­raussetzungen her könnte Subsahara-Afrika autark in seiner Nahrungs- und Energieversorgung werden“, ist das Berlin-Institut überzeugt. Fortschritte im Landwirtschafts- und Energiebereich könnten sich gegenseitig positiv beeinflussen und Millionen neue Arbeitsplätze schaffen.

Geschieht dies nicht, dürften immer mehr Menschen aus Afrika versuchen, ihr Heil in Europa zu suchen.

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