10.03.2017

Wir bleiben!

Fast 8 000 Winteranoraks konnte Schwester Annie mit Hilfe aus Paderborn produzieren lassen und anschließend in Aleppo verteilen.

Erzbistum. Die grau-weiße Schwesternhaube rutscht beim Sprechen nach wenigen Minuten nach hinten. Sorgfältig richtet Schwester Annie Demerjian jedes Mal dieses äußere Zeichen ihrer Ordensangehörigkeit wieder nach vorn, sodass die Ohren halb bedeckt sind. Noch häufig soll sie in diesen Tagen ihre Haube richten, denn die 50-jährige Frau mit armenischen Wurzeln muss auf viele Fragen antworten bei ihrem Besuch in Paderborn: sei es im Caritas-Migrationsdienst oder im Flüchtlingscafé der Malteser oder bei der ökumenischen Flüchtlings­initiative in Wewer.

von Jürgen Sauer

In Begleitung ihrer Provinz­oberin, Schwester Helen ­Haigh, beschreibt sie, was viele Zuhörer nur aus den Medien kennen: das Leben und Überleben im syrischen Aleppo. Dort versucht die kleine Gemeinschaft der Schwestern Jesu und Mariens zusammen mit einer Gruppe Ehrenamtlicher die größte Not der Menschen zu lindern, indem sie u. a. Lebensmittelpakete, Wasser oder Stromgutscheine verteilen. Geholfen wird allen, Christen und Muslimen.

Vor dem Fall des Ostteiles der Stadt im Vorjahr, erfolgte die Hilfe oft unter Lebensgefahr. Scharfschützen-, Raketen- und Mörserbeschuss ließen auch im Westteil der Stadt das eigene Leben am seidenen Faden hängen. „Wir verabschiedeten uns oft morgens, ohne zu wissen, ob wir uns am Abend wiedersehen.“ Traumatisch war der Karsamstag 2016, als sechs Raketen in das christliche Viertel einschlugen. „Drei Familien wurden komplett ausgelöscht“, berichtet Schwester Annie. „Statt Ostern zu feiern, mussten wir die Opfer beerdigen.“ Sie berichtet von Vätern, die die verstümmelten Leichen ihrer Kinder bergen mussten und anschließend nicht einmal mehr weinen konnten, weil sie in Apathie verfielen.

Aleppo heute, das sind Trümmer und Ruinen, nicht nur im Ostteil der Stadt. „Im Anfang hatten die Menschen noch Geld, sich irgendwie durchzubringen.“ Inzwischen sind viele geflohen. Geblieben sind vor allem solche, die nicht wegkonnten, weil sie zu alt oder zu jung sind oder schlichtweg kein Geld haben. Arbeit haben die wenigsten. Strom und Wasser sind rationiert, weil der IS noch immer den größten Staudamm im Osten der Region kontrolliert. Das Assad-Regime hat Brunnen bohren lassen und für Stromgeneratoren gesorgt. Doch alles muss teuer bezahlt werden.

Das Straßenbild ist geprägt von Menschen, die Wasserkanister schleppen. Schwester Annie berichtet von einer Szene, in der sie sich neben eine total erschöpfte Frau auf den Bordstein setzte. „Sie muss das Wasser täglich für ihre Familie in ihre Wohnung in den fünften Stock tragen.“ Strom gibt es nur zu horrenden Preisen und zu bestimmten Mengen. Einen Kühlschrank und einen Herd gleichzeitig betreiben, ist damit nicht drin.

Wie im kriegszerstörten Nachkriegsdeutschland entwickeln die Leute Erfindergeist. Der Renner in Aleppo sind zurzeit Leuchtdrähte, die nur wenig Strom benötigen, aber wenigstens für ein bisschen Licht sorgen. Die Kälte in den Wintermonaten macht allen zu schaffen. Glücklich solche, die einen Ölofen besitzen. Allerdings ist Heizöl kostbar. Schwester Annie berichtet von einem älteren Ehepaar, das sein Bett verkauft hat, um ein wenig Brennstoff zu erwerben: „Wir konnten nicht mit ansehen, wie die alten Leute mit ihren Matratzen auf dem Boden schlafen mussten und haben den beiden ein neues Bett besorgt.“

Vor ihrem Ordenseintritt hat Schwester Annie ein Technik-­Studium absolviert, was ihr nun in vielen Fällen hilft. So hatten Ende 2016 der Diözesan-­Caritasverband und das Erzbistum Paderborn 80 000 Euro zur Verfügung gestellt, um in den verbliebenen kleinen Schneiderei-Betrieben in Aleppo fast 8 000 Winter­anoraks für Kinder produzieren zu lassen – wichtige Aufträge für die kleinen Unternehmen und natürlich eine wertvolle Hilfe für die Familien, die verzweifelt nach warmer Bekleidung für die Kinder anfragen. Bis hin zur Stärke des Innenfutters hat die resolute Ordensfrau die Produktion penibel überwacht. Am warmen Futter sparen? Nicht mit Schwester Annie 

Wie man vier Jahre Krieg und Chaos aushält? Diese Frage wird Schwester Annie immer wieder gestellt. Denn sie hätte auch eine Alternative gehabt. „Wir haben den Schwestern vor vier Jahren angeboten, das Land zu verlassen. Das wäre problemlos möglich gewesen“, sagt Provinzoberin Helen Haigh. Die syrisch-stämmigen Schwestern hätten sich nur kurz beraten, um dann zu sagen: Wir bleiben!

Für Schwester Annie ist ihr christlicher Glaube kein Schönwetter-Glaube. In der Not zeige sich, was er wert ist, sagt Schwester Annie und verweist auf den Apostel Paulus, der im syrischen Damaskus seinen Weg zu Gott fand. Was ihr Hoffnung macht? „Trotz aller Dunkelheit gibt es diese unbändige Kraft des Lebens, gerade bei den Kindern“, sagt sie. Eine Szene hat sich bei Schwester Annie ins Gedächtnis eingebrannt. Als ihre Schule unter Scharfschützen-­Beschuss lag, wurde gerade eine Klassenarbeit geschrieben. Die Lehrer haben alle Kinder aufgefordert, auf die Korridore zu flüchten. „Als ich nachsah, ob alle Kinder aus dem Raum waren, fand ich ein Mädchen unter einem Tisch. Sie schrieb in Seelenruhe weiter an ihrer Arbeit.“

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